Wissenschaftliche Weltanschauung
Die Lehre vom Klassenkampf (Teil 2)
Seit Mitte der 60er-Jahre hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seinerzeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommende Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschlagen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden. Wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.
Sendetermin: 1. März 1972
Im Februar 1972 fand eine der gewaltigsten Klassenauseinandersetzungen, die es in Großbritannien nach 1945 gegeben hat, ihren Abschluß. An die 280 000 britische Bergleute standen sieben Wochen lang in geschlossener Streikfront für die Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen. Der Erfolg dieses Kampfes wurde keineswegs in „partnerschaftlichen“ Verhandlungen erreicht, er mußte vielmehr im zähen Ringen der Bergarbeiter gegen die Monopole und deren Machtinstrument, den britischen Staat, erfochten werden.
Natürlich ging es in diesem umfassenden Streik in erster Linie um die dringend erforderlichen Lohnerhöhungen. Aber kann man daraus schließen, daß es sich hier um eine rein ökonomische Auseinandersetzung handelte? Wenn das so wäre, dann könnte man sich die hektischen und bösartigen Reaktionen der herrschenden Kreise einschließlich der gesamten reaktionären Presse schwerlich erklären. Von dieser Seite hörte man, daß zwar eine Schlacht verlorengegangen sei, der Krieg aber weitergehe. Was sind das für Töne? Diese Reaktion weist darauf hin, daß der Kampf der Bergarbeiter die politische Herrschaft der Tory-Regierung empfindlich getroffen hatte. Vor allem war die Monopolbourgeoisie erbost darüber, daß es ihr trotz größter Anstrengungen nicht gelungen war, die Bergarbeiter zu isolieren, daß sich vielmehr breite Kreise der Bevölkerung mit den Kumpels solidarisierten. Den Verleumdungen von der angeblichen „nationalen Gefahr“, die dieser Streik bedeute, gingen viele Engländer damals nicht auf den Leim.
Aber die Klassenauseinandersetzung in Großbritannien hatte nicht nur ökonomische und politische Aspekte. Sie war auch verbunden mit der ideologischen Entwicklung der Arbeiter. Für viele von ihnen wurde deutlicher, daß sie mit ihren berechtigten Forderungen auf den harten Widerstand des ganzen kapitalistischen Herrschaftssystems, einschließlich des angeblich neutralen Staates, stießen. Die vielgepriesene „Klassenharmonie“ entlarvte sich für die Streikenden, die sieben Wochen lang den Verleumdungen und Drohungen ausgesetzt waren, als pure Heuchelei. Andererseits wurde die gewaltige Kraft der Solidarität der Arbeiterklasse des eigenen Landes wie auch der internationalen Arbeiterklasse für jeden erlebbar.
Dieses eine Beispiel aus der Vielzahl der Klassenkämpfe macht deutlich: Der Klassenkampf der Arbeiterklasse vollzieht sich in verschiedenen Formen, die auch in der gegenwärtigen Klassensituation in der einen oder anderen Weise miteinander verbunden sind. Welches sind nun die Hauptformen dieses Kampfes? Die Klassenschlachten zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie in der Vergangenheit und deutlicher noch in der Gegenwart zeigen, daß sich die Auseinandersetzungen zunehmend gleichermaßen auf ökonomischem, politischem wie ideologischem Gebiet vollziehen – obgleich das zunächst vielen Arbeitern nicht unbedingt am Beginn der Aktionen klar ist.
Der ökonomische Kampf – historisch gesehen, die erste Form des proletarischen Klassenkampfes – wird um Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen, um Arbeitszeitverkürzungen und andere soziale Belange geführt. Sein wichtigstes Mittel ist der Streik.
Dieser ökonomische Kampf, in dessen Gefolge die Gewerkschaften entstanden, durchzieht die ganze Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft. Er reicht von den ersten lokalen Streiks in England und in Frankreich im 19. Jahrhundert bis zu den Massenstreiks der Gegenwart. In ihm treten bestimmte Gruppen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie auf, z. B. die Arbeiter eines Betriebes oder eines Wirtschaftszweiges; dieser Kampf führt die Werktätigen nicht notwendig zum Verständnis ihrer objektiven Klassensituation. Sie gaben sich in der Vergangenheit oft genug mit geringfügigen Verbesserungen ihrer sozialen Lage zufrieden und blieben, was sie waren: Ausgebeutete des Kapitals.
Um grundlegende Veränderungen zu erreichen, ist es notwendig, den ökonomischen mit dem politischen Kampf zu verbinden. In diesem Kampf, in dem es um die Grundinteressen der ganzen Arbeiterklasse geht, stehen sich Proletariat und Bourgeoisie als Klassen gegenüber; in ihm entwickelt sich das revolutionäre Klassenbewußtsein. Dieser politische Klassenkampf erfordert die Führung der Arbeiterklasse durch eine marxistisch-leninistische Partei als der höchsten Form der Klassenorganisation. Im ideologischen Kampf als der dritten Hauptform des Klassenkampfes geht es um die Entwicklung des Klassenbewußtseins der Arbeiter, um das Hineintragen der sozialistischen Ideologie in die Arbeiterbewegung, um die ständige ideologische Auseinandersetzung mit allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Anschauungen und Theorien, die auf die Arbeiterklasse einwirken mit dem Ziel, sie in Abhängigkeit zu halten.
Wenn wir hier knapp die drei Hauptformen des proletarischen Klassenkampfes charakterisiert haben, so darf daraus keineswegs geschlossen werden, daß diese Formen nacheinander, nebeneinander oder isoliert voneinander existieren. Lenin wies in Verallgemeinerung des Klassenkampfes stets auf den Zusammenhang dieser Formen hin. In einem 1912 veröffentlichten Artikel „Wirtschaftlicher und politischer Streik“ schrieb er: „Indem die Arbeiterklasse für eine Verbesserung der Lebensbedingungen kämpft, wächst sie zugleich sowohl moralisch als auch geistig und politisch, wird sie fähiger, ihre großen Freiheitsziele zu verwirklichen.“1 Diese Erkenntnis hat nichts an Bedeutung eingebüßt. Vielmehr zeigt sich gerade im staatsmonopolistischen Kapitalismus mit seiner engen Verflechtung von Monopolen und Staatsmacht, mit seiner immer perfekteren geistigen Manipulierung der Werktätigen, daß ein erfolgreicher Kampf der Arbeiterklasse auf ökonomischem Gebiet zu politischen und ideologischen Konsequenzen und Entwicklungen führt.
Diese notwendige untrennbare Verbindung des ökonomischen, politischen und ideologischen Kampfes als Voraussetzung des Sieges der Arbeiterklasse weist zugleich darauf hin, daß damit die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei ständig anwächst. Denn – und das ist eine wichtige Erkenntnis der revolutionären Arbeiterbewegung – das Klassenbewußtsein, das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse entwickelt sich nur in Ansätzen spontan aus den sozialen Existenzbedingungen der Arbeiter. Es muß durch eine intensive Aufklärungs- und Schulungsarbeit in die Arbeiterklasse hineingetragen werden, damit sie befähigt wird, die Manipulationen der Großbourgeoisie und ihres Propagandaapparats zu durchschauen und die eigene Klassenlage zu begreifen.
Gerade deshalb konzentrieren sich heute die Angriffe der bürgerlichen Ideologen auf die führende Rolle der Partei. Die Existenz und den Kampf der Klassen völlig leugnen zu wollen, wäre heutzutage mit dem Preis der Unglaubwürdigkeit verbunden; aber viele dieser bürgerlichen Theoretiker verwenden ihren ganzen Eifer darauf, an Stelle des bewußt geführten und organisierten Kampfes für eine Harmonisierung der Konflikte oder für spontane Formen ihrer Austragung zu plädieren. Das ist ein Grund dafür, warum heute z. B. alle jene „Neomarxisten“, Renegaten und Revisionisten propagiert werden, die sich – bei Unterschieden in Einzelfragen ihrer Anschauungen – in einem einig sind: in der Ablehnung der marxistisch-leninistischen Lehre von der Partei als Vortrupp und Führer der Arbeiterklasse.
Allen Anbetern einer spontanen Entwicklung der Arbeiterbewegung, allen Anhängern eines „reinen“ ökonomischen Kampfes hatte Lenin mit seiner Arbeit „Was tun?“ bereits eine scharfe Abfuhr erteilt. „Je breiter die Bewegung wird“, schrieb Lenin in „Was tun?“, „desto stärker, unvergleichlich stärker werden die Anforderungen an das Maß der Bewußtheit sowohl in der theoretischen als auch in der politischen und organisatorischen Arbeit.“2 Wenn wir uns im vorigen Teil dieses Zyklus darüber klargeworden waren, daß der Klassenkampf eine objektive Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist, so wird nun deutlich, daß diese Einsicht allein noch nicht ausreicht. Untrennbar damit verbunden ist die Frage, wie die Arbeiterklasse den Klassenkampf führen muß, um ihre historische Aufgabe zu erfüllen. Diese Frage richtig zu beantworten, heißt die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei anzuerkennen. Nur eine solche Partei ist auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie in der Lage, die Arbeiterklasse auf die Klassenauseinandersetzung mit der Bourgeoisie vorzubereiten, sie in diesem Klassenkampf zu führen.
Die marxistisch-leninistische Partei erfüllt diese Funktion nicht etwa deshalb, weil sie vielleicht eine besondere „Elite“ oder gar eine „Verschwörerorganisation“ ist, wie Antikommunisten behaupten. Was die Kommunisten auszeichnet, umrissen Marx und Engels bereits im „Manifest der Kommunistischen Partei“: Die Kommunisten „haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“.3 Daher sind sie in der Lage, die konkreten Bedingungen der jeweiligen Situation richtig einzuschätzen und daraus die Strategie und Taktik des Klassenkampfes abzuleiten. Dazu gehört, daß die objektiven Bedingungen analysiert werden – also der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse, die Klassenstruktur, das Kräfteverhältnis. Dazu gehört aber ebenso die Einschätzung der subjektiven Bedingungen. Darunter verstehen wir den Reifegrad der Arbeiterklasse, ihres Klassenbewußtseins vor allem, die Stabilität ihrer Organisiertheit.
Nur ein solches Herangehen bewahrt davor, die konkrete Situation des Klassenkampfes zu überschätzen und im Revoluzzertum, im Anarchismus oder „linkem“ Radikalismus zu landen. Ein solches Herangehen bewahrt aber auch vor der Unterschätzung der Kraft der Arbeiterklasse und dem Abgleiten auf die Positionen des Reformismus – was nichts anderes hieße, als den Arbeitern jede Fähigkeit revolutionären Handelns abzusprechen.
All jenen, die entweder nur die objektiven Bedingungen sehen und dabei den subjektiven Faktor vergessen oder die den revolutionären Elan unabhängig von den realen Verhältnissen vorantreiben wollen, sei Lenins bereits 1907 formulierte Charakteristik des Marxismus ins Gedächtnis gerufen: „Dar Marxismus unterscheidet sich von allen anderen sozialistischen Theorien durch eine hervorragende Vereinigung von absoluter wissenschaftlicher Nüchternheit in der Analyse der objektiven Sachlage und des objektiven Entwicklungsganges mit der entschiedensten Anerkennung der Bedeutung der revolutionären Energie, der revolutionären Schaffenskraft, der revolutionären Initiative der Massen und natürlich auch der einzelnen Personen, Gruppen, Organisationen und Parteien, die es verstehen, Verbindungen mit den einen oder anderen Klassen ausfindig zu machen und zu realisieren.“4
Anmerkungen
- Lenin: Wirtschaftlicher und politischer Streik. LW, Bd. 18, S. 73
- Lenin: Was tun? LW, Bd. 5, S. 408
- Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. MEW, Bd. 4, S. 474
- Lenin: Gegen den Boykott. LW, Bd. 13, S. 23
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