Über deutsche Antifaschisten
in britischen Kriegsgefangenenlagern
Die Lektionen des Dr. Wolfgang Abendroth
Nur noch selten verharren unsere Erinnerungen in jenen Tagen, als sich das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Herrschaft bereits abzeichnete. Die Sowjetarmee stand damals an den Grenzen Rumäniens, Polens und des Baltikums, die Anglo-Amerikaner und der innere Widerstand setzten der faschistischen Wehrmacht in Frankreich, Belgien und den Niederlanden zu. Auch in Italien und auf dem Balkan konzentrierten sich starke antifaschistische Kräfte. In dieser Phase wuchs die Zahl der in Kriegsgefangenschaft geratenden Deutschen erheblich. Das veranlaßte die britische Regierung, Maßnahmen zur Überwindung der Nazi-Ideologie in deren Köpfen einzuleiten. Mit der „reeducation“ (Umerziehung) deutscher Kriegsgefangener wurde die Politische Abwehr beim Londoner Foreign Office – kurz PEW – beauftragt, die sich dazu eine entsprechende Struktur mit der Kurzbezeichnung PID schuf. Damit folgten die Briten auf ihre Weise dem Beispiel der Sowjetunion, die bereits im Mai 1942 ein System von Antifa-Schulen geschaffen hatte.
Im britischen Mutterland konzentrierte sich das PID-Direktorium auf den Aufbau einer Zentralschule in Wilton-Park bei London – dem Camp 300. Darüber hinaus konnte eine beträchtliche Anzahl deutschsprachiger Wissenschaftler, Lehrer und Publizisten, insbesondere jüdische Emigranten, mobilisiert werden. Völlig anders verhielt es sich in Ägypten, wo die Zahl dorthin überstellter deutscher Kriegsgefangener aus den italienischen und griechischen Kampfgebieten rasant anwuchs und bald 100 000 überschritt. Dem Kairoer PID-Verantwortlichen standen außer einzelnen Angehörigen der britischen Armee so gut wie keine deutschsprachigen Intellektuellen zur Verfügung, so daß der Umerziehungsprozeß anfangs kaum realisierbar schien.
Doch unter den im Herbst 1944 in Griechenland gefangengenommenen deutschen Soldaten befand sich auch eine zunächst noch geringe Zahl aus politischen Gründen Vorbestrafter der Wehrmachtsdivision 999. Dieser Verband aus „Wehrunwürdigen“ war Ende 1942 zur Entlastung von Rommels Afrika-Korps gebildet worden. Später wurden dann bis zu 18 Festungs-Infanterie-Bataillone (FIB) in Griechenland eingesetzt. Bei den ersten Verhören dieser Kriegsgefangenen, zu denen auch der vom V. FIB/999 zur griechischen Volksbefreiungsarmee desertierte Dr. Wolfgang Abendroth gehörte, kamen die britischen Intelligence Officers im Camp 304 bei Kairo auf die Idee, sie für das Umerziehungsprogramm zu nutzen. Das war für sie riskant, handelte es sich doch überwiegend um Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Doch § 8 der Allgemeinen Lagerordnung besagte ausdrücklich: „Jede politische Agitation ist verboten – insbesondere kommunistische Propaganda!“ Da aber keine anderen deutschsprachigen Helfer zur Verfügung standen, entschied man sich dafür, es mit ihnen zu versuchen.
In kurzer Zeit wurden nun in dem zwischen Kairo und Ismailia gelegenen Camp 379 vorwiegend solche Kriegsgefangenen konzentriert, die sich als Deserteure oder in anderer Hinsicht ablehnend gegenüber dem Nazi-Regime bekannt hatten. Auch die schon in Ägypten befindlichen ehemaligen Angehörigen der 999er Division wurden hier eingewiesen. Dr. Abendroth arbeitete gemeinsam mit dem Juristen Herbert Komm vom XIII. FIB/999, der später in Westberlin als Präsident des Landessozialgerichts wirkte, an der Gewinnung antifaschistischer Persönlichkeiten, die in der Lage waren, auch ohne Lehrbücher einen interessanten Unterricht zu gestalten. In der letzten Februarwoche 1945 konnte damit begonnen werden. Dr. Abendroth nahm sich der Fächer Marxismus und Völkerrecht an, Herbert Komm beschäftigte sich mit Kommunalpolitik und Polizeirecht. Hinzu kamen fünf Fremdsprachen, diverse Wissens- und Technik-Seminare sowie Literaturzirkel – insgesamt etwa 90 Fächer, die bald von durchschnittlich 1300 Teilnehmern belegt wurden.
Inhaltlich nahmen zu dieser Zeit die britischen Intelligence Officers kaum Einfluß, so daß die deutschen Nazigegner ihre Freiräume voll nutzen konnten. Der Versuch, einige Wehrmachtsoffiziere aus einem benachbarten Camp als Lehrkräfte einzubeziehen, scheiterte am Widerstand Dr. Abendroths und führte zu heftigen Verstimmungen. Unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 änderten die Briten ihr Verhalten. Einschneidend war dabei die Verlegung vieler ehemaliger 999er und weiterer Antifaschisten in andere Lager.
Auch Dr. Abendroth war davon betroffen. Er setzte sich aber auch im Camp 306 am Großen Bittersee sofort für den Aufbau einer Lagerschule ein, was auch hier vom PID-Team unterstützt wurde. Dabei arbeitete er mit dem erfahrenen kommunistischen Journalisten Dr. Wolfgang Joho vom VI. FIB/999 zusammen, der die Lagerzeitung „Wüstenstimme“ redigierte und später in der DDR ein erfolgreicher Schriftsteller war. Nach und nach entstanden auch in anderen Lagern ähnliche Schulen, jedoch mit begrenzterer politischer Wirksamkeit.
Überall waren es Antifaschisten aus der Strafdivision 999, die sich an der inhaltlichen Ausgestaltung der Lehrpläne aktiv beteiligen. Sie halfen dadurch, viele ehemalige Hitler-Soldaten auf ein Leben frei von Nazi-Ungeist und Völkerhaß vorzubereiten. In vielen Lagern und Arbeitskompanien waren Gruppen der Freien Deutschen Jugend entstanden. Ende August 1948, unmittelbar vor der Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Ägypten, konnten die FDJ-Gruppenleiter aus drei Arbeitskompanien der Zeitung „Junge Welt“ über ihre Aktivitäten berichten. Nicht wenige der damals Beteiligten setzten diese in ihrer Heimat fort. Diesen Antifaschisten sollte unser Respekt gelten, zumal er ihnen in beiden deutschen Staaten aus völlig unterschiedlichen Gründen zumeist versagt blieb.
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