RotFuchs 233 – Juni 2017

Die letzten Wochen vor
der Oktoberrevolution (Teil 2)

RotFuchs-Redaktion

Die wirtschaftliche Lage im Lande

Im Mai und Juni 1917 wurde die wirtschaftliche Zerrüttung Rußlands immer deut­licher. In dieser Zeit wurden 80 Prozent mehr Industriebetriebe stillgelegt als im März und April. Die Roheisenproduktion sank im Vergleich zum Vorjahr um 11 Prozent und die Steinkohlenförderung um 10 Prozent. In allen Industriegebieten streikten die Arbeiter für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. In vielen Betrieben wurde gegen den Widerstand der Kapitalisten der 8-Stunden-Tag eingeführt.

Die Bauernbewegung wächst an

Unwissenheit, Isolierung und Unterdrückung, fast durchgängiges Analphabetentum machten es den armen Bauern unmöglich, von allein den Ausweg aus ihrer Not zu finden. Die Parteiorganisationen der Bolschewiki schickten deshalb aus den großen Industriegebieten Arbeiter aufs Land, die den Bauern beistanden, die Ländereien der Gutsbesitzer sofort in Besitz zu nehmen. Durch diese Aufklärungsarbeit wuchs die politische Aktivität der Bauern rasch an.

Die Bauern nahmen vor allem Grund und Boden, Wiesen und Weiden, lebendes und totes Inventar, Saatgut und Heu in Besitz. Sie begannen, Mühlen und Betriebe zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in die eigenen Hände zu nehmen, senkten den Pachtzins und hoben alte Pachtverträge auf.

Der Gesamtrussische Bauernkongreß

Am 17. Mai 1917 begann in Petrograd der Gesamtrussische Kongreß der Bauern­vertreter aus den Bauernsowjets des ganzen Landes. Es nahmen insgesamt 1115 Delegierte teil. Die Mehrheit gehörte den kleinbürgerlichen Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre an. 465 Delegierte waren parteilos und 20 Delegierte Bol­schewiki. Aufgrund dieser Mehrheitsverhältnisse nahm der Kongreß eine Resolution an, die der Provisorischen Koalitionsregierung das Vertrauen aussprach und für die Fortsetzung des Krieges „bis zum siegreichen Ende“ eintrat.

Am 4. Juni 1917 hielt W. I. Lenin auf dem Kongreß eine Rede, in der er u. a. sagte: „Wir wollen, daß die Bauern sofort, ohne einen Monat, eine Woche oder auch nur einen Tag zu verlieren, das Land der Gutsbesitzer erhalten.“

Unter den Soldaten

Bei der Gewinnung der Soldaten für die Sache der Revolution spielten die Militärorga­nisationen der Bolschewiki eine bedeutende Rolle. Im Juni kamen z. B. täglich über 300 Delegierte von Soldatenräten zur Petrograder Militärorganisation in die Villa Krzesinska, um sich Informationen und Zeitungen zu holen. Die „Soldatskaja Prawda“ („Soldaten-Wahrheit“) war unter den Soldaten sehr populär und beeinflußte ihre Meinungsbildung.

Im Soldatenklub „Prawda“, der sich ebenfalls in der Villa Krzesinska befand, hörten die Soldaten Vorlesungen, nahmen an Seminaren und Aussprachen mit Arbeitern teil und hörten Vorträge von Lenin, der häufig im Klub sprach. Durch diese Arbeit wuchs der Einfluß der Bolschewiki in der Petrograder Garnison von Tag zu Tag. Im Mai hatte die Militärorganisation, die auch in anderen Garnisonsstädten in ähnlicher Weise arbeitete, 6000 Mitglieder.

Im Mai und Juni 1917 wurden täglich bis zu 3000 Zeitungen und mehr als 1000 Broschüren unentgeltlich an die Front geschickt.

Lenin-Denkmal in Rasliw / Foto: W. Metzger (1976)

W. I. Lenin

Lenin bewältigte in dieser Zeit ein umfangreiches Arbeitspensum. Er führte Gesprä­che mit Genossen aus den örtlichen Parteiorganisationen, unterhielt sich mit Arbei­tern, Soldaten und Abgesandten der Bauern. Fast täglich erschienen Artikel von ihm in der „Prawda“.

Seit seiner Rückkehr aus der Emigration im April hatte er bis Anfang Juli über 170 Artikel, Aufrufe, Resolutionen und Broschüren zu den wichtigsten Fragen der Revo­lution verfaßt und auf vielen Massenversammlungen das Programm der Bolschewiki erläutert.

Die Konferenz der Militärorganisationen

Vom 23. Juni bis 6. Juli 1917 fand eine Gesamtrussische Konferenz der Militärorga­nisationen der Bolschewiki statt. Vertreter von 60 Organisationen der Front und des Hinterlandes vertraten fast 26 000 Parteimitglieder. Alle Redner erklärten, daß die barfüßigen, zerlumpten und hungernden Soldaten nicht länger für die Provisorische Regierung bluten wollten.

Am 3. Juli 1917 sprach Lenin über die politische Lage und rief dazu auf, die Kräfte der Arbeiter und der revolutionären Armee entschlossen auf den Übergang der Macht an die Sowjets vorzubereiten.

Bourgeoisie, Provisorische Regierung und Generalität bereiteten indessen immer intensiver eine neue Offensive an der Front vor. Ihre Rechnung war einfach. Gelingt die Offensive, würde das ihre Macht festigen und ermöglichen, über die Bolschewiki herzufallen und die Sowjets auseinanderzujagen. Im Falle eines Mißlingens konnte man die Bolschewiki bezichtigen, die Armee zersetzt zu haben, und ebenfalls ihre Tätigkeit verbieten und die Sowjets auseinanderjagen.

Fabrik- und Werkkomitees

Nach der Februarrevolution waren von den Arbeitern in den Betrieben Fabrik- und Werkkomitees geschaffen worden. Die Mitglieder der Werkkomitees wurden auf Betriebsversammlungen gewählt und waren den Arbeitern gegenüber rechenschafts­pflichtig.

Die Komitees kämpften gegen die Wirtschaftssabotage und Aussperrungen durch die Bourgeoisie und setzten die Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung durch. In den Werken, die von ihren Besitzern verlassen worden waren, übernahmen sie die Betriebsleitung und brachten die Produktion in Gang.

Im Unterschied zu den Gewerkschaften vereinigten sie die Arbeiter aller Berufs­zweige und Abteilungen einer Fabrik, eines Werkes oder eines Bergwerkes. Als selbständige Organisationen arbeiteten sie in Übereinstimmung mit den Gewerk­schaften Tarifverträge aus oder organisierten z. B. medizinische Hilfe für die Arbeiter.

Die Beratung in Petrograd

Vom 12. bis 16. Juni 1917 fand im Taurischen Palast in Petrograd die erste Konferenz der Fabrik- und Werkkomitees statt. Das war in der Zeit, als die Lebensmittelpreise von der Mehrheit des Volkes kaum noch zu bezahlen waren: Schwarzbrot war um das 5,5fache, Kartoffeln um das 11fache, Fleisch um das 6,5fache und Pflanzenöl um das 8fache teurer geworden.

In dieser Situation berieten und beschlossen 568 Delegierte aus 367 Betrieben – sie vertraten 337 000 Arbeiter Petrograds und Umgebung – „ökonomische Maßnahmen des Kampfes gegen die Zerrüttung“, die von Lenin entwickelt und in einer Resolution vorgelegt worden waren.

Die Menschewiki versuchten auf dieser Konferenz, die Arbeiterkontrolle den Fabrik­komitees zu entreißen und durch eine staatliche Kontrolle unter Beteiligung der bürgerlichen Parteien zu ersetzen. Doch etwa drei Viertel der Delegierten folgten den Forderungen Lenins und der Bolschewiki. Sie erklärten, daß ein erfolgreicher Kampf gegen die Zerrüttung nur möglich sei, „wenn die gesamte Staatsmacht in die Hände der Proletarier … übergeht“.

Konferenzen von Fabrik- und Werkkomitees in Moskau, Iwanowo-Wosnessensk, Jaroslawl und anderen Städten zeigten, daß der Einfluß der Bolschewiki unter den Arbeitern beträchtlich wuchs, während der Einfluß der Menschewiki weiter zurück­ging.

Gestützt auf UZ