RotFuchs 193 – Februar 2014

Zum Stellenwert des Geschehens in der Berliner Dynamo-Halle

Die Messen waren bereits gesungen

Jürgen Stenker

Folgte man Prof. Ingo Wagners Argumentation im RF 191, dann hätte der Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 das Ende der DDR eingeläutet. Ich habe den Autor so verstanden: Dieses Ereignis war ein Putschparteitag, weil er sich de facto als „Türöffner“ für den Sieg der Konterrevolution in der DDR erwies.

Hat dieser letzte Parteitag der SED wirklich so viel „Ehre“ verdient? Besaß er tatsächlich diese entscheidende Bedeutung für die Niederlage des Bemühens, gemeinsam mit den anderen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft eine ausbeutungsfreie Gesellschaft zu errichten? Schon die internationale Dimension dieser Frage läßt anklingen, daß unsere Niederlage viel weitergehende Ursachen hatte und nicht an einem Parteitag allein festgemacht werden kann. Tun wir das dennoch, so lenkt es unsere Aufmerksamkeit von den wirklichen Ursachen des Geschehens in der Dynamohalle ab. Dabei soll das Gewicht dieses Vorgangs für die Partei und den weiteren Ablauf der sich bereits in vollem Gange befindlichen Konterrevolution nicht geleugnet werden. Der in einer für den Bestand der DDR und der SED so extrem wichtigen Zeit durchgeführte Parteitag hat mit Sicherheit nichts Entscheidendes für den Erhalt der DDR getan. Was aber hätte er in dieser Situation auch tun sollen, was konnte er überhaupt leisten?

Marxisten-Leninisten wissen, daß gesellschaftliche Abläufe, Erscheinungen und Ereignisse stets allseitig zu beurteilen sind, wobei die Frage nach der aktuellen Situation und ihrem Entstehen, den handelnden gesellschaftlichen Kräften, deren Interessen und den Ergebnissen ihres Wirkens gestellt und beantwortet werden muß. Insofern ist die Aufklärung der Ursachen unserer Niederlage viel umfassender und komplizierter. Der „RotFuchs“ hat dazu schon einen bedeutenden Beitrag geleistet. Jede neue Ausgabe unserer Zeitschrift erwarte ich mit Spannung, gerade auch wegen der dazu geführten Diskussion.

Nun aber zurück zum „Putschparteitag“. Welche gesellschaftliche Situation war im Dezember 1989 entstanden? Wie war die Lage in der SED? Welche Entwicklungen hatten zu ihr geführt? Wer waren die handelnden oder auch die in Passivität verharrenden Kräfte? Wie war es um die alles entscheidende Machtfrage bestellt? Welche Rolle spielten die Volksmassen, auch und gerade deshalb, weil sie sich 1989/1990 nicht mehr auf die Seite des Sozialismus gestellt, sondern vielmehr für die Ablösung der Diktatur des Proletariats durch die Diktatur der Bourgeoisie optiert haben? Auch hier wäre eine differenzierte Bewertung notwendig.

Wie hatte sich die Situation in der DDR bis zum Dezember 1989 entwickelt? Erich Honeckers Wort von den „jähen Wendungen“, auf die man gefaßt sein müsse, haftet mir noch im Gedächtnis. Vielen Genossen war bewußt, daß sich die Situation in der DDR immer mehr zuspitzte. Der Widerstand gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung wuchs an, wenn auch zuerst noch von kleinen Personenkreisen ausgehend, aber bereits mit massiver Unterstützung der bourgeoisen Medien, Parteien und Geheimdienste. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger schwieg vorerst noch. Die Parteiführung machte weiter wie bisher. Sie negierte die Probleme und ließ die Presse mit Erfolgsmeldungen füllen. Die letzten Parteitage waren reine Jubelveranstaltungen und keine Foren der kollektiven Meinungsbildung zu notwendigen Veränderungen, um die Klassenauseinandersetzung siegreich zu gestalten und den im Aufbau befindlichen Sozialismus theoretisch und praktisch weiter voranzubringen. Warum sollten sie auch eine solche Rolle spielen, wenn nicht einmal an der Spitze dieser kritische Geist herrschte und von einem Kollektiv der Parteiführung keine Rede mehr sein konnte?

Ich erinnere daran, daß die zunehmende Zahl von Bürgern, welche die DDR verlassen wollten, ignoriert und zur Sache des MfS und des Innenministeriums erklärt wurde. Was interessierten die Parteiführung die Ursachen! Selbst die zunehmende Aggressivität beim Verlassen der DDR wie die Besetzung von Botschaften in der DDR und in sozialistischen Bruderländern war kein Anlaß zum Umdenken und Handeln. Ungarn zwang man faktisch zur Öffnung der Grenze. In völliger Verkennung der Realitäten ließ man den Zug voller Besetzer der Prager BRD-Botschaft durch die DDR fahren – mit den uns Älteren noch bekannten Folgen in Dresden.

Die Informationspolitik der Partei funktionierte nach dem Motto: Prügelt den Überbringer der schlechten Nachricht! Die Parteiführung schuf eine Atmosphäre der Lethargie. Damit lähmte sie die Parteiorganisationen und deren Mitglieder, statt sie auf die heranreifenden Ereignisse einzustellen. Das sollte sich in der Zeit, als der Kampf gegen die Konterrevolution geführt werden mußte, als entscheidendes Defizit erweisen.

Das Politbüro hatte das Vertrauen des Volkes und auch vieler dem Sozialismus treu ergebener Genossen verloren. Vielleicht auch deshalb, weil seine Mitglieder nur noch Huldigungen, aber keine echten und kontroversen Diskussionen mit den Werktätigen mehr gewohnt waren.

Erinnert sei auch an die unsere Verfassung verletzende, völlig unnötige und realitätsferne Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen im Frühjahr 1989. Damit gab man den antisozialistischen Kräften im Inneren eine Steilvorlage, die diese gemeinsam mit ihren Verbündeten im Westen zur Intensivierung ihres antisozialistischen Kampfes nutzten. Auch außerhalb der DDR entwickelte sich Bedrohliches. Die VR Polen bewegte sich immer weiter vom Sozialismus weg. Mit einer Restauration des Kapitalismus mußte dort gerechnet werden. Die Sowjetunion war unter Gorbatschow zu einem äußerst fragwürdigen Bündnispartner geworden. Unsere führenden Genossen hatten ja genügend dagegen gewettert. Völlig zu Recht. Wo aber blieben die Schlußfolgerungen?

Wir haben darauf gewartet und gehofft, daß sich in der Parteiführung auch personell etwas ändern würde – hin zu mehr Realismus und Nüchternheit. Aber es kam der Zeitpunkt, da es dafür zu spät war. Der handelnde Teil des Volkes verweigerte die Gefolgschaft, die Mehrheit schwieg, und Partei wie Staat waren gelähmt. Schließlich öffnete ein Politbüromitglied am 7. November 1989 dem Gegner auch noch unsere Grenzen.

Schon bald darauf fand der Außerordentliche Parteitag statt. Hunderttausende SED-Mitglieder hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Dokumente hingeworfen.

Und dieser Parteitag soll das Ende der DDR eingeläutet haben? Das war doch schon längst passiert. Die eigenen Bataillone waren geschwächt, verunsichert und in ihrem Handlungsspielraum eingeengt. Bereits Monate vor dem Parteitag waren keine ernsthaften und entschiedenen Versuche zur Verteidigung der DDR mehr unternommen worden. Damit meine ich nicht den Einsatz der bewaffneten Macht, sondern die Mobilisierung der Menschen, die am Erhalt der DDR interessiert waren und dem weiteren Vordringen der Konterrevolution hätten Widerstand entgegensetzen können und wollen.