Wie ein Renegat der KPdSU den Untergang der UdSSR bewertet
Die Metamorphose des Valentin Falin
Valentin Falins Publikation „Politische Erinnerungen“ aus dem Jahre 1993 folgte ein weiteres Buch unter dem Titel „Konflikte im Kreml. Der Untergang der Sowjetunion“. Dieser Spätling zur Erklärung des Zerfalls der UdSSR war bereits 1997 im Berliner Karl-Blessing-Verlag herausgekommen, wurde aber erst jetzt – viele Jahre später – von edition berolina noch einmal präsentiert. Der Verlag bezeichnet das Falinsche Produkt als „klare emotionslose Analyse der Vorgänge, die den Kollaps der Sowjetmacht mit verursachten“. In seinen zuvor geheimgehaltenen Briefen, Memoranden und Denkschriften, die er an Michail Gorbatschow und A. N. Jakowlew adressierte, sowie seiner Geschichtswertung bringe der Autor „Licht in die erbitterten Debatten von 1986 bis 1992, die in der damaligen Führung der KPdSU geführt wurden“.
Die Ankündigung von „Licht“ ist ziemlich hochgestapelt. Auf dem Büchermarkt der Betrachtungen zum Untergang der Sowjetunion tut sich wenig, was etwas Neues vermitteln könnte. Das demonstriert Valentin Falin, der neuerdings als „Geschichtsphilosoph“ oder „geschichtsphilosophischer Kommentator“ gehandelt wird, mit seinem nachträglichen Bericht über das Sterben des sozialistischen Vielvölkerstaates. Vor ihm hatten andere sowjetische Spitzenpolitiker vergangener Tage den „Kollaps“ der UdSSR bereits beleuchtet. Ich denke dabei an solche Bücher wie das des früheren Mitglieds des KPdSU-Politbüros Jegor Ligatschow. Der Mitgestalter der Perestroika hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und erwies sich in „Wer verriet die Sowjetunion?“ als scharfer Kritiker Gorbatschows. Auch Nikolai Ryschkow, letzter sowjetischer Ministerpräsident, hatte in seinem Bericht „Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs“ Wesentliches mitzuteilen. Ich nahm an, daß mit diesen und einigen weiteren Publikationen die Serie der Betrachtungen zu diesem Thema abgeschlossen sein würde. Doch ich hatte mich getäuscht.
Valentin Falin war für mich jahrelang mehr als ein guter Bekannter. Ich glaubte, in ihm einen Freund zu besitzen. Von 1971 bis 1978 war er Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik. Auch nachdem er 1988 durch Protektion Alexander Jakowlews, des „Architekten der Perestroika“, zum Sekretär des ZK der KPdSU und Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees aufgestiegen war, hatten wir viel miteinander zu tun. Bis 1990 führten wir einen ständigen Meinungsaustausch über Fragen der Deutschlandpolitik, auch über das Für und Wider der Perestroika. In etlichen Gesprächen gab sich Falin als Kommunist. Anfang der 90er Jahre vollzog sich in ihm der Wandel vom vermeintlichen Marxisten zum Sympathisanten einer etwas links angehauchten Sozialdemokratie. Nach dem Untergang der UdSSR zog er 1992 nach Hamburg, wo er bis 2000 ein Häuschen bewohnte. Durch Vermittlung des SPD-Ideologen Egon Bahr wurde Falin Mitarbeiter des „Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“.
Der Renegat wurde für mich zu einem Stück Vergangenheit. Doch mit der Lektüre seiner „Konflikte im Kreml“ holte mich diese wieder ein. Falin kehrte als „Analytiker“ der mißlungenen Perestroika und als „geschichtsphilosophischer“ Betrachter der Gorbatschow-Ära in meine Wahrnehmung zurück. Ich weiß auch nach der qualvollen Lektüre dieses Elaborats noch immer nicht so recht, als was ich es eigentlich verstehen soll: Handelt es sich um ein „Geschichtsbuch“ über das Ende der Sowjetunion und der KPdSU? Ist es ein „politisches Sachbuch“ zu Qualitäten und Zerwürfnissen in der sowjetischen Machtzentrale? Ist es der Abgesang eines aus der Öffentlichkeit scheidenden ehrgeizigen Mannes? Oder ist es von jedem etwas?
Das zuletzt Gesagte scheint zuzutreffen. Aus meiner Sicht handelt es sich bei dem Falin-„Werk“ um die Verurteilung der Sowjetunion – des ersten und insgesamt erfolgreichen Landes des realen Sozialismus – aus inquisitorischer Sicht. Es ist zugleich aber auch eine Anklage gegen die historisch gescheiterte Perestroika und eine kritische Auseinandersetzung mit deren Erfindern: Gorbatschow und Jakowlew. In jedem Falle ist es ein gewollt antikommunistisches Machwerk, das einen exquisiten Platz in den Regalen mit entsprechender Literatur finden dürfte. Bei Falin fehlt es nicht an konterrevolutionären Ratschlägen.
Der Autor versteht sich heute als „russischer Patriot“, der von Sorge um die Zukunft erfüllt zu sein vorgibt. „Dieses Buch will mit niemandem alte Rechnungen begleichen. Es soll vielmehr zeigen, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur und – wenn man den Tatsachen Glauben schenkt – nicht einmal in erster Linie auf Imperative (kategorische Forderungen – H. M.) zurückzuführen ist, die den Selbsterhaltungstrieb der Nation lahmgelegt haben, als vielmehr auf Besonderheiten der Machtstrukturen und auf persönliche Eigenschaften der letzten Herrscher der UdSSR“, schreibt Falin. Aufschlußreicherweise stellt er fest: „Der wirtschaftliche Schaden, den die Neuerungen der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion angerichtet haben, ist um das Zwei- bis Zweieinhalbfache größer als die Verluste des Landes im Zweiten Weltkrieg. Das Lebensniveau der Bevölkerung wurde halbiert. Was das Tempo des Sozialabbaus betrifft, so liegt Rußland hier weit vor den entwickelten und vor manchen Entwicklungsländern.“ Das Land sei „ins 17. Jahrhundert“ zurückgeworfen.
Eine stolze Bilanz von Perestroika und Glasnost, an denen Falin selbst maßgeblich mitgewirkt hat!
Doch der zum Renegaten gewordene einstige Sekretär des ZK der KPdSU unterbreitet auch seine Rezepte für einen Ausweg aus der Misere: „Wir brauchen unverzüglich die Freiheit des Handels, dazu die reale Gleichstellung aller Eigentumsformen“, schreibt er. „Der normale Wirtschaftskreislauf der Sowjetunion kann nicht wiederhergestellt werden, wenn man weiterhin um den Markt einen Bogen macht.“
Das alles hört sich nicht nur nach Restauration des Kapitalismus an, sondern ist ein Kernstück kapitalistischen Denkens. Der Falin von heute ist nicht mehr der Falin, dem ich einst begegnete.
Unser Autor ist Lenin-Friedenspreisträger und war von 1973 bis 1990 Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).
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