Generaloberst a.D. Fritz Streletz
zur Gewaltlosigkeit im Herbst 1989
Die militärische Führung der DDR
handelte besonnen
Als Zeitzeuge möchte ich mich zu drei Fragen äußern, die für eine wahrheitsgetreue Betrachtung der Geschichte der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR während der Ereignisse im Herbst 1989 von Bedeutung sein könnten.
1. Zur Befehlsgebung durch den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates.
2. Zur Öffnung der Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und zu Westberlin am 9. November 1989.
3. Zur Zusammenarbeit der NVA mit der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte
Zu 1: Im Herbst 1989 mußten Aufgaben gelöst werden, die einen der Verantwortung entsprechenden politisch-moralischen Zustand der NVA und der Grenztruppen der DDR erforderten.
Trotz der Massendemonstrationen und der Sprachlosigkeit der Partei- und Staatsführung, aber auch der militärischen Führung zu den anstehenden Problemen galt es Ordnung und Sicherheit sowie die Grenzsicherung zu gewährleisten.
Zu den Befehlen Nr. 8 und 9/89, die noch von Erich Honecker und den Befehlen Nr. 11 und 12/89, die bereits von Egon Krenz als Vorsitzendem des Nationalen Vereidigungsrates (NVR) unterzeichnet wurden:
Auch im Herbst 1989 sind wir, die militärische Führung, von dem Grundsatz ausgegangen, daß politische Probleme mit politischen Mitteln und auf politischem Wege gelöst werden müssen. In diesem Sinne habe ich die vier Sicherheitsbefehle des Vorsitzenden des NVR erarbeitet.
Befehl Nr. 8/89 beinhaltete Aufgaben und Verantwortung der Bezirkseinsatzleitung Berlin im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR.
Aus diesem Dokument ist ersichtlich, daß der Vorsitzende der Bezirkseinsatzleitung Berlin, Schabowski, die volle Verantwortung für Ruhe, Sicherheit und Ordnung in Berlin zu tragen hatte. Diesen Befehl haben außer ihm auch der Minister für Nationale Verteidigung, der Minister für Staatssicherheit und der Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei erhalten.
Der Befehl Nr. 9/89 hat eine Vorgeschichte: Bekanntlich fand am 9. Oktober in Leipzig eine Demonstration mit 70 000 Menschen statt. Man rechnete für den 16. Oktober mit 120 000 bis 150 000 Teilnehmern.
Auf Anordnung von Egon Krenz sind wir am 13. Oktober gemeinsam mit ihm nach Leipzig geflogen, um uns mit der Bezirkseinsatzleitung zu beraten. Die Hauptaufgaben bestanden darin, keine Provokationen, keine Gewalt und keine Anwendung von Schußwaffen zuzulassen.
Auf dem Rückflug habe ich den Befehl Nr. 9/89 des Vorsitzenden des NVR Erich Honecker vorbereitet. Ich zitiere Punkt 5: „Der aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten gegen eingesetzte Sicherheitskräfte bzw. bei Gewaltanwendung gegen Objekte auf Befehl des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung Leipzig. Der Einsatz der Schußwaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“
Bundespräsident Horst Köhler behauptete später: „Vor der Stadt standen Panzer. Die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schußwunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“
Als seinerzeitiger Sekretär des NVR stelle ich demgegenüber fest: Kein einziger Panzer stand vor oder in Leipzig; kein Vorgesetzter hat der Bezirkspolizei einen Befehl oder eine Weisung gegeben, ohne Rücksicht auf Demonstranten zu schießen; in Leipzig wurden nirgends Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt. Kein Arzt der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie der Leipziger Karl-Marx-Universität wurde in die Behandlung von Schußverletzungen eingewiesen. Das bestätigte der Direktor der Klinik Professor Karl-Friedrich Lindenau.
Der Befehl Nr. 11/89 wurde von mir auf Weisung von Egon Krenz am 3. November erarbeitet. Er beinhaltete Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstadt Berlin im Zusammenhang mit der geplanten Großdemonstration auf dem Alexanderplatz, zu der bis zu einer Million Menschen erwartet wurden. Auch dort hieß es: „Die Anwendung der Schußwaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“ Der Befehl Nr.12/89 über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des NVR zielte darauf ab, wieder Ruhe, Ordnung und Sicherheit in der DDR, vor allen Dingen in Berlin, durch abgestimmte Maßnahmen aller zuständigen Organe herzustellen.
Die vier genannten Befehle des Vorsitzenden des NVR stellten eine wichtige Voraussetzung dafür dar, daß es im Herbst 1989 in der DDR keine ukrainischen Verhältnisse mit Tausenden von Toten gegeben hat. Warum erfolgte 1989/90 kein Einsatz der Nationalen Volksarmee zur Verteidigung des Sozialismus in der DDR?
Der Verfassungsauftrag für die Nationale Volksarmee beinhaltete, die DDR gegen alle äußeren Feinde, gegen eine Aggression zu schützen. Die Bewaffnung, Ausrüstung, Ausbildung und Erziehung waren immer – vom Fahneneid ausgehend – auf die Erfüllung dieser Hauptaufgabe ausgerichtet.
Nach den Grenzsicherungsmaßnahmen zu Westberlin am 13. August 1961 gab es keine Pläne für einen möglichen inneren Einsatz der Nationalen Volksarmee der DDR und der auf ihrem Territorium stationierten Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte.
Wichtig ist auch, daß weder die Verfassung der DDR noch das Verteidigungsgesetz einen Ausnahmezustand vorsahen. Es fehlte deshalb jede rechtliche Grundlage für einen Einsatz der NVA im Innern der DDR.
Zu 2: Am 27. Juni 1989 hatte Ungarn den Abbau der Grenzsicherungsanlagen veranlaßt. Es erhielt dafür von der BRD eine Wirtschaftshilfe von 500 Millionen Mark. In der Nacht vom 9. zum 10. September erfolgte mit großer Medienpräsenz die Grenzöffnung Ungarns zu Österreich. Über 60 000 Bürger verließen über diese Grenze die DDR.
Auch über die ČSSR nahm die Fluchtbewegung zu. Prag drohte, die Grenze zur DDR zu schließen. Es mußten deshalb durch die Partei- und Staatsführung der DDR Sofortmaßnahmen ergriffen werden.
Das Politbüro des ZK der SED hatte am 30. 10. 1989 beschlossen, dem Ministerrat der DDR zu empfehlen, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten, den Entwurf öffentlich zur Diskussion zu stellen und es mit Wirkung vom 20. 12. 1989 in Kraft treten zu lassen. Bis dahin sollte auch das Valuta-Problem für Reisegeld (pro Person 300 DM) geregelt sein.
Durch die in Ungarn und der ČSSR eingetretene Situation konnte diese Frist nicht eingehalten werden. Deshalb beschloß das Politbüro, der am 9. November beginnenden 10. Tagung des ZK den Vorschlag zu unterbreiten, jenen Teil des Reisegesetzes, welcher sich mit der ständigen Ausreise aus der DDR befaßte, per Durchführungsbestimmung sofort in Kraft zu setzen.
Am Morgen des 9. November kamen je zwei Oberste des MfS und des Mdl zusammen, um im Auftrag ihrer Minister und entsprechend der Vorgabe des Politbüro-Beschlusses einen Vorschlag zur Regelung des Problems der ständigen Ausreise zu erarbeiten. Der entsprechende Beschluß sollte noch am gleichen Tage vom Ministerrat gefaßt und mit Wirkung vom 10. November in Kraft gesetzt werden.
Die vier Oberste hielten sich aber nicht an den Befehl, nur einen Vorschlag zur ständigen Ausreise zu erarbeiten, sondern nahmen auch Bestimmungen für Privatreisen in den Ministerratsbeschluß mit auf.
Organe der DDR konnten und durften an der Berliner Grenze ohne Zustimmung der sowjetischen Seite (Westgruppe und Botschaft) keine eigenen Aktivitäten entwickeln.
Die 10. Tagung des ZK der SED verlief sehr turbulent und ließ Zerstrittenheit erkennen. Egon Krenz gab dort den Text des Ministerrats-Beschlusses „Zeitweilige Übergangsbestimmungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR“ bekannt. Er war im Umlaufverfahren durch die Mitglieder des Ministerrates bereits bestätigt worden. Das Dokument wurde ohne größere Diskussion durch das ZK angenommen. In einer Pause übergab es Egon Krenz an Günter Schabowski, der den Beschluß auf der Pressekonferenz mitteilen sollte.
Als Schabowski die neue Reiseregelung bekanntgab, war er in völliger Unkenntnis über den Zeitpunkt, zu dem sie in Kraft treten sollte: 10. November, 4 Uhr. Auf die entsprechende Frage eines Journalisten antwortete er anscheinend spontan: „Ab sofort, unverzüglich!“
Beabsichtigt war hingegen, den Beschluß des Ministerrates erst ab nächsten Morgen in Kraft treten zu lassen, um den zu erwartenden Ansturm von Antragstellern auf die Dienststellen der Deutschen Volkspolizei zu lenken. Statt des beabsichtigten kontrollierten Reiseverkehrs ab 10. November löste Schabowskis Mitteilung eine ganz andere Wirkung aus. Ohne jegliche Information und ohne Befehl der Führung standen die Mitarbeiter der Grenzübergangsstellen (GÜST) plötzlich Ansammlungen von Menschen gegenüber, die nach Westberlin wollten.
Kurz vor Beginn der ARD-Tagesschau stellte dpa um 19.45 Uhr Schabowskis Ankündigung als bereits vollzogene Tatsache dar: „Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen.“ Höhepunkt der Fernseh-Berichterstattung waren dann die ARD-„Tagesthemen“: „Reiseverkehr frei“, „Tore in der Mauer weit offen“, „Völlig komplikationslos nach West-Berlin“. Danach gab es für Tausende, ja Zehntausende Ost- und West-Berliner sowie Bewohner des Umlandes kein Halten mehr. Erst jetzt begann der Ansturm auf die Grenzübergänge. Gegen 1 Uhr waren alle Berliner GÜST geöffnet.
Am 10. November gegen 8 Uhr trafen die sieben Mitglieder der Operativen Führungsgruppe des NVR, die entsprechend Befehl Nr. 12/89 gebildet wurde, im Vorzimmer von Egon Krenz ein, wurden in ihre Aufgaben eingewiesen und nahmen die Arbeit auf.
Gleichzeitig hatte ich an diesem Tag die Aufgabe, engen Kontakt zum Oberkommandierenden der Westgruppe, Armeegeneral Snetkow, zu halten und ihn über alle wichtigen Ereignisse oder Entscheidungen zu informieren. Gegen 8.30 Uhr rief ich ihn an. Ich entschuldigte mich dafür, ihn nicht rechtzeitig über die geplante Öffnung der Grenzübergangsstellen in Berlin informiert zu haben. Das stieß auf Unverständnis. Ich versicherte Armeegeneral Snetkow, daß alle von uns eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Westgruppe erfüllt würden. Bei der militärischen Grenzsicherung zur BRD und zu Westberlin gebe es keine Abstriche.
Gegen 9 Uhr rief der sowjetische Botschafter Kotschemassow bei Egon Krenz an. Der gab den Hörer an mich weiter, da ich besser russisch spräche. Kotschemassow stellte mir die Frage: „Wer hat euch die Genehmigung zur Öffnung der Berliner Grenzübergangsstellen gegeben? Mit wem ist dieser Schritt abgestimmt worden?“
Bei einem weiteren Anruf des sowjetischen Botschafters ließ dieser wissen, Moskau sei über die Handlungsweise zur Öffnung der Berliner GÜST verstimmt. Im Interesse der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR wäre es zweckmäßig, sofort ein Telegramm von Egon Krenz an Michail Gorbatschow zu schicken und die Gründe für unser Vorgehen in Berlin darzulegen. Egon Krenz beauftragte mich, ein solches Schreiben vorzubereiten. Zwischen den Gesprächen mit Botschafter Kotschemassow rief ich meine drei Partner, die Generalstabschefs in Moskau, Warschau und Prag an, um sie über die Lage zu informieren. Ich versicherte ihnen: „Wir werden wie bisher alle eingegangenen Bündnisverpflichtungen und Pläne der Zusammenarbeit erfüllen.“
Eine solche Grenzöffnung am 9. November 1989 in Berlin war weder mit der sowjetischen Partei- und Staatsführung noch mit dem sowjetischen Generalstab abgestimmt. Sie kam also für Moskau völlig unerwartet und wurde als Alleingang der DDR betrachtet.
Auch für die drei Minister der bewaffneten Organe der DDR kam die Öffnung der GÜST in Berlin völlig überraschend. Sie waren von diesem Schritt erst am 10. November, d. h. nach einer Vorbereitungszeit von 8 bis 10 Stunden, ausgegangen. Diese hätte vollkommen ausgereicht, um eine klare und abgestimmte Befehlsgebung bis nach unten durchzusetzen.
Schabowski wußte als Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung, der das gesamte Grenzsicherungssystem in Berlin kannte und immer über die Lage an der Staatsgrenze allseitig informiert war, sehr genau, was seine Worte „Ab sofort, unverzüglich!“ auf die elf GÜST in Berlin für Auswirkungen haben mußten.
Diese unverantwortliche Handlungsweise eines führenden Politikers der DDR, egal welche Motive ihr auch immer zugrunde lagen, hat unser Land an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Nur dem politisch bewußten Verhalten und besonnenen Handeln der Angehörigen der bewaffneten Organe sowie der strengen Einhaltung des Befehls Nr. 11/89 – kein Einsatz der Schußwaffe – ist es zu verdanken, daß die Ereignisse nicht eskalierten. Ein einziger Schuß an der Grenze hätte eine katastrophale Kettenreaktion auslösen können! In meiner Sicht ergeben sich aus den Ereignissen der „Maueröffnung“ folgende Schlußfolgerungen:
Die politische, staatliche und militärische Führung ist ihrer Verantwortung in dieser äußerst komplizierten Lage nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Sie hat die Entwicklung in den brisanten Nachtstunden vom 9. zum 10. November dem Selbstlauf überlassen.
Grundlage dafür, daß trotz dieses unübersichtlichen und von niemandem erwarteten Ansturms auf die GÜST in Berlin alles friedlich verlief, war die klare Befehlsgebung durch die Vorsitzenden des NVR Erich Honecker und Egon Krenz, keine Gewalt und keinen Schußwaffeneinsatz zuzulassen. Ihre Befehle wurden von den Angehörigen der NVA, der Grenztruppen der DDR, des MfS und des Mdl unter schwierigsten Bedingungen strikt eingehalten.
Zu 3: Zu dem angeblichen Befehl, den die Westgruppe aus Moskau erhalten haben soll, während der „Wende“ in den Kasernen zu bleiben und die Objekte nicht zu verlassen, sei nur so viel gesagt: Nach meiner Kenntnis hat es einen solchen Befehl nicht gegeben.
Am 13. Oktober haben Egon Krenz und ich den Befehl 9/89 des NVR über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in Leipzig Erich Honecker vorgelegt.
In diesem Zusammenhang wurde er darüber informiert, daß die Monate September und Oktober sowohl für die Nationale Volksarmee als auch für die Westgruppe eine Zeit intensivster Übungstätigkeit mit Gefechtsschießen und Inspektionen waren und seien.
Für die NVA wurden die entsprechenden Aktivitäten auf Grund der entstandenen politischen Lage abgesetzt. Geschlossene Truppenteile sollten die Kasernen nicht mehr verlassen. Für die Westgruppe gab es derartige Festlegungen nicht.
Erich Honecker beauftragte mich, mit dem Oberkommandierenden der Westgruppe, Armeegeneral Snetkow, Verbindung aufzunehmen und ihn zu bitten, nach Möglichkeit in den nächsten Tagen keine Truppenbewegungen in den Räumen Halle/Leipzig, Dresden und Potsdam/Berlin durchzuführen. Dieser Bitte ist Armeegeneral Snetkow nachgekommen. Der Oberkommandierende brachte mir gegenüber zum Ausdruck, daß die Gruppe immer bereit sei, ihren Waffenbrüdern der NVA die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu gewähren.
Der hier abgedruckte Text wurde einem längeren Material des Verbandes zur Pflege der Traditionen der NVA und der Grenztruppen der DDR entnommen. Es trägt die Überschrift „Zeitzeugen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR zu den Ereignissen im Herbst 1989 und im Jahr 1990“.
In Absprache mit dem Autor gekürzt und redigiert durch die Redaktion des RF
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