Eine historische Betrachtung zum 100. Jahrestag
der Entfesselung des 1. Weltkrieges
Die Schlachtbank der Völker
Am 28. Juli 1914 jährt sich zum 100. Mal der Beginn des 1. Weltkrieges. Dieser Tag wäre Anlaß genug, der Opfer zu gedenken und die Toten zu ehren, in Deutschland zu trauern.
Was aber geschieht im Vorfeld dieses Jubiläums? Ganze Heerscharen von Geschichtsfälschern sind unterwegs, um die Ursachen des großen Gemetzels zu verschleiern, vergessen zu machen, was damals und zuvor tatsächlich geschah. Über den Charakter des Krieges und die Verantwortlichen dieses bis dahin größten Völkermordens wird der Mantel des Schweigens gebreitet. Es finden dubiose Meinungssondierungen statt, die verdrängen sollen, wer diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat. So möchte man mit der jüngsten Forsa-Umfrage eine „Kollektivschuld“ aller am Krieg beteiligten Mächte konstruieren. Lesern, Hörern und Zuschauern wird durch die Medien suggeriert, Menschen aus allen 38 involvierten Nationen hätten Schuld am Krieg und dessen Folgen getragen. Bei der Verwendung des Begriffs der Nation wird natürlich ausgeblendet, daß diese stets durch Klassen, Klassengegensätze und Klassenkämpfe gespalten ist. Zwischen den Interessen der werktätigen Mehrheit und den profitgetriebenen Machtinteressen der Monopolbourgeoisie klaffen Abgründe. Das bedeutet, daß die herrschende Klasse jeder beteiligten Nation die Schuld am Krieg trug.
Solche Umfragen sind lediglich ein Bestandteil des Versuchs, den wirklichen Ablauf des Geschichtsprozesses zu entstellen und zu verfälschen.
Der 1. Weltkrieg hatte wie jeder militärische Konflikt konkrete Ursachen und einen entsprechenden Charakter. So besaß auch das 1914 begonnene Völkermorden eine Vorgeschichte, die man kennen muß, um urteilsfähig zu sein.
Klaus Steiniger traf im Leitartikel des RF 173 die Feststellung: „Kriege fallen nicht vom Himmel. Sie sind nicht ,Gottes Werk‘, sondern werden von Menschen gemacht, die dabei handfeste Interessen verfolgen. Vorgespiegelte Ideale oder angeblich hehre patriotische Ziele sollen nur vom großen Raubzug ablenken.“
Die Hauptursachen des 1. Weltkrieges waren die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung der kapitalistischen Staaten und die um 1900 beendete Aufteilung der Welt unter den stärksten Mächten. Das kaiserliche Deutschland war zu spät und zu kurz gekommen. Es strebte deshalb eine Neuaufteilung der Welt an. Dadurch verschärften sich die Widersprüche zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten. Der krasseste Gegensatz entstand zwischen Großbritannien als der führenden Kolonialmacht und dem imperialistischen Deutschland, das nicht weniger als die Weltherrschaft zu erringen trachtete. Um diese beiden Mächte bildeten sich aggressive Blöcke: die Mittelmächte mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, dem sogenannten Dreibund. Später kamen hierzu noch die Türkei und Bulgarien. Der Gegenpol war die Entente mit Großbritannien, Frankreich und Italien, das die militärischen Blöcke gewechselt hatte, Rußland und Japan. Auf seiten der Entente standen im 1. Weltkrieg insgesamt 27 Staaten.
Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt begann mit der Vorgeschichte dieses gigantischen Zusammenpralls. Dazu zählt zweifellos die als Boxeraufstand bekanntgewordene chinesische Massenerhebung von 1900/1901. Sie richtete sich gegen die Truppen der konkurrierenden Staaten Rußland, England, Frankreich, Japan, USA und Deutschland sowie die von ihnen ausgehende koloniale Unterdrückung. Die am Aufstand Beteiligten sahen sich 40 000 schwerbewaffneten Soldaten der erwähnten Mächte gegenüber, die eine grausame Strafexpedition vollzogen. Bekannt ist der als „Hunnenrede“ in die Geschichte eingegangene Appell Kaiser Wilhelms II., in China wie einst die Hunnen zu wüten.
1904/1905 fand der Russisch-Japanische Krieg statt, bei dem es um die Vorherrschaft in Ostasien ging, besonders in der Mandschurei.
1905 kam es zur ersten „Marokkokrise“. Ziel der deutschen Imperialisten war es, ihre französischen Konkurrenten aus dem nordafrikanischen Maghreb zu verdrängen. Ihr Vorhaben scheiterte, da Frankreich von Großbritannien und Italien Unterstützung erhielt.
1911 folgte die zweite „Marokkokrise“, die ebenfalls zum Anwachsen der Kriegsgefahr beitrug.
Beim 1. Balkankrieg (Oktober 1912 bis Mai 1913) kreuzten sich die politischen und ökonomischen Interessen nahezu aller imperialistischen Staaten. Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro brachten der Türkei eine schwere Niederlage bei und setzten der byzantinischen Herrschaft in weiten Regionen ein Ende.
Im 2. Balkankrieg (Juni/Juli 1913) erlitt Bulgarien eine Niederlage gegen Serbien, Rumänien, Griechenland und die Türkei. Der Balkan war zu einem „Pulverfaß“ geworden. Ein einziger Funke konnte den Weltbrand auslösen.
Die deutschen Imperialisten und Militaristen betrieben vor 1914 eine umfangreiche ideologische Kriegsvorbereitung, wobei sie Schulen, Universitäten, Theater, Kirchen und vor allem die Presse in ihren Dienst zu stellen suchten. Um die Volksmassen für einen Eroberungskrieg einspannen zu können, wurden den Chauvinismus anheizende Propagandazentralen wie der Alldeutsche Verband, die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Ostmarkverein, der Deutsche Flottenverein, der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, der Deutsche Wehrverein und zahlreiche Kriegervereine ins Leben gerufen.
Die psychologische Kriegsvorbereitung ging mit verstärkter Aufrüstung einher. Die deutschen Waffenschmieden wurden enorm aufgestockt. Mit den Flottengesetzen von 1898 und 1900 begann auch das Wettrüsten zur See, welches insbesondere den Konflikt mit Großbritannien verschärfte. Von 1902 bis 1913/14 stiegen die Ausgaben für Kriegsgerät und Munition von 965 Mio. Mark auf 2,11 Mrd. Mark an.
Worin bestanden die Absichten und Ziele der Kontrahenten des drohenden großen Zusammenpralls?
Deutschland: Vorherrschaft auf dem Weltmarkt. Erweiterung des Kolonialbesitzes, Annexion fremder Gebiete östlich und westlich der Reichsgrenze. Herabdrücken verbleibender Nachbarstaaten auf den Status von Vasallen.
Großbritannien: Inbesitznahme der deutschen Kolonien. Beseitigung von dort ausgehender Konkurrenz. Erbeutung der deutschen Handelsflotte, Aufteilung der Türkei.
Frankreich: Vereinnahmung Elsaß-Lothringens und des Gebiets an der Saar. Zugriff auf deutsche Kolonien. Zerstückelung des Mutterlandes. Aufteilung der Türkei und Syriens.
Rußland: Vorherrschaft auf dem Balkan. Aufteilung der Türkei mit Zugriff auf die Dardanellen. Vereinnahmung Ostgaliziens.
Die herrschenden Klassen aller erwähnten imperialistischen Mächte wollten den Krieg. Es fehlte nur noch der Anlaß, um losschlagen zu können. Er fand sich. Am 28. Juni 1914 wurde der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo durch ein Attentat serbischer Nationalisten getötet.
Seitdem wird der Anlaß oftmals als Ursache ausgegeben. Es bedurfte indes des Zeitraums von 30 Tagen, um den Krieg zu beginnen. Österreichs Regierung mußte sich erst der Unterstützung Berlins vergewissern. Am 28. Juli erklärte die k.u.k.-Monarchie Serbien den Krieg. Jetzt begann das Räderwerk der Militärbündnisse zu arbeiten. Dabei griff Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, der bereits am 9. September 1914 Berlins Kriegsziele formuliert hatte, zu einer Geschichtslüge. Er erklärte, daß Rußland der Schuldige sei. Bereits am 30. Juli 1914 aber hatte Moltke, der Chef des deutschen Generalstabs, die österreichisch-ungarische Monarchie gedrängt, sofort gegen Rußland mobil zu machen. Die These von der „russischen Gefahr“ wurde zum Hauptargument sowohl der kaiserlichen Regierung als auch des opportunistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie.
Am 31. Juli erfolgte die Mobilmachung in Österreich-Ungarn und in Deutschland, am 1. August in Frankreich sowie die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland. Am 3. August erklärte Berlin dem Nachbarland Frankreich den Krieg. Am 4. August begann der Einfall der deutschen Truppen in das neutrale Belgien, um die Blitzkriegsstrategie des sogenannten Schlieffen-Planes umzusetzen. Die Verletzung der belgischen Neutralität bot England den Anlaß zum Kriegseintritt. Am 6. August erklärte Österreich-Ungarn dem russischen Zarenreich den Krieg. Serbien tat das gegenüber Deutschland, Montenegro gegenüber Österreich-Ungarn und Deutschland, während Frankreich und England am 12. August den gleichen Schritt in bezug auf Österreich-Ungarn unternahmen.
Da die deutsche Öffentlichkeit von der kaiserlichen Regierung nur einseitig und falsch unterrichtet wurde, ließ sich die Mehrheit des Volkes angesichts der augenscheinlich ungünstigen Mächtekonstellation die Notwendigkeit einer Vaterlandsverteidigung einreden. Die SPD-Führung verkündete ebenfalls, der Krieg sei angesichts der Haltung Rußlands unvermeidlich geworden. Das löste beim überwiegenden Teil des jahrzehntelang nationalistisch und militaristisch indoktrinierten deutschen Volkes chauvinistische Kriegsbegeisterung aus. Doch die Bilanz war furchtbar: Die Regierungen der 38 beteiligten Staaten führten insgesamt 23 Millionen Soldaten der Mittelmächte und die Entente 42 Millionen Mann in das bis dahin größte „Menschenschlachthaus“ Europas. 8,1 Millionen Soldaten überlebten den Wahnsinn nicht. Grenzenloses Leid verbirgt sich hinter diesen Zahlen. 18,9 Millionen Verwundete kehrten zwar zu ihren Familien zurück, doch ein großer Teil von ihnen starb an den Folgen ihrer Kriegsverletzungen.
Der 1899 geborene und am 22.9.1918 in Frankreich gefallene Bruder meiner Großmutter schickte kurz vor der Vereidigung seiner Einheit eine Postkarte zu den Eltern in Staßfurt. Darauf stand: „Die herzlichsten Grüße von hier sendet Euch Euer Paul. Morgen werden wir vereidigt. Haben heute Scharfschießen gehabt. Habe 10,11,12 geschossen, also der beste Schütze mit. Dafür kriegen wir Urlaub …“ Am Tage seines Todes schrieb er: „Liebe Eltern und Geschwister! Teile Euch mit, daß ich noch gesund und munter bin. Wir liegen jetzt den Franzosen, Schwarzen und Amerikanern gegenüber. Rücken heute wieder in Stellung. … Wenn es auch schwere Stunden gibt, so hoffe ich doch alles glücklich zu überstehen, denn einmal muß der Krieg doch vorbei sein … Auf Wiedersehen.“ Welche Ironie des Schicksals!
Es gab kein Wiedersehen. Die Eltern konnten das Grab ihres Sohnes niemals besuchen. Unwillkürlich fragt man sich: Was hatten ihm die Franzosen getan? Was hatte er dort zu suchen? Wer hat ihn dort hingeschickt? Er kannte Frankreich nur aus dem Erdkundeunterricht. Was er allerdings in der Schulstube auch gehört hatte, war „… Jeder Stoß ein Franzos.“ Welche Menschenverachtung!
Wenn man aus Anlaß des 100. Jahrestages des Beginns des 1. Weltkrieges den Versuch einer Aufhellung des objektiven Geschichtsverlaufs mit Ursachen, Wirkungen und Folgen für die Menschen unternimmt, dann handelt es sich dabei nicht schlechthin um Nostalgie. Es gilt, aus der unglückseligen deutschen Vergangenheit endlich die richtigen Schlußfolgerungen ziehen und zu verhindern, daß Kinder und Enkelkinder 100 Jahre nach dem Schreckensdatum von 1914 und 75 Jahre nach der Entfesselung des 2. Weltkrieges erneut Kanonenfutter der Kriegsparteien werden.
Das 20. Jahrhundert ging als ei-nes der verheerendsten Centennien in die Geschichte ein. Zwei Weltkriege und unzählige mörderische Konflikte regionaler oder lokaler Dimension gehören zu seiner Chronik. Ein Weltkrieg im 21. Jahrhundert hätte angesichts der modernen Waffentechnik und des Vorhandenseins atomarer Massenvernichtungsmittel noch weitaus schlimmere Folgen. Er würde die Existenz der ganzen Menschheit aufs Spiel setzen. Doch der Kapitalismus vermag dem zur Methode gewordenen Wahnsinn nicht Einhalt zu gebieten. Noch immer sind Millionen Arbeiter weltweit in Rüstungsbetrieben beschäftigt.
Und auch das sollte man nicht außer acht lassen: Im 1. Weltkrieg waren 5 % der Getöteten Zivilisten, im 2. Weltkrieg stieg deren Anteil auf 48 %! Im Koreakrieg ging man sogar von 84 % und im Vietnamkrieg von 92 % getöteten Zivilisten aus.
Die Regierung der BRD hat aus all dem nichts gelernt. Während sie einerseits eine rigorose Sparpolitik verfolgt und die Sozialausgaben kürzt, verhält sie sich andererseits gegenüber der Rüstungsindustrie mehr als „kulant“. 1980 betrugen die Militärausgaben im Weltmaßstab 110 Dollar pro Kopf. Seitdem sind sie unaufhörlich weiter gestiegen. 1996 fanden 25 regionale Kriege statt, 2013 waren es nicht weniger. Und die BRD bekundet – gleich mit welcher Regierung – stets ihre Bereitschaft, alle militärischen Interventionen und Einzelaktionen der NATO, ob in Kosovo, Afghanistan oder derzeit erneut in Afrika, zu unterstützen.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 verlangte Bundespräsident Gauck in seiner Rede, „als gutes Deutschland“ dürfe die BRD aus der historischen Schuld der Deutschen nicht länger ein „Recht auf Wegsehen“ ableiten. Was indes unter einer „aktiven Rolle Deutschlands in der Welt“ zu verstehen ist, wissen die Völker sehr genau. Spätestens seit 1914.
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