Gewidmet Ho Chi Minh
Die unbesiegliche Inschrift, 1973
Ho Chi Minh
Zur Zeit des Vietnamkrieges Mitte Januar 73 sprühte ein Demonstrant mit roter Farbe an eine Wand der historischen Nikolaikirche zu Frankfurt am Main die drei Worte …
Ganz oben an die Wand, etwas schief,
aber mit ungeheuren Buchstaben geschrieben.
Als die Verwaltung der Stadt –
die anders als die gleichnamige Stadt
an der Oder eine Zentrale der Banken
und Monopole ist –
die Parole sah, schickte sie Maler der Firma
Julius Hembus „Stuck, Anstrich, Malerei, Vergoldung“
mit dem Auftrag, sie sollten
„die Schrift so schnell wie möglich
aus den Augen bringen, egal, was es kostet“.
In solchen Fragen erweist sich als großzügig
plötzlich das Kapital,
dem sonst nicht ein Pfennig egal ist.
Die Hembus-Maler also begannen emsig
auf dem Vorplatz des Römer
an der Kirchenwand zu schrubben.
Sie schrubbten lange und gründlich
und erfolglos.
Die Parole war am Donnerstag
auf der Wand noch lesbar wie am Mittwoch
und an den Tagen zuvor.
Als darauf eifrige Hembus-Putzer am Freitag
den besonders teuren, weil auf alt gemachten
Putz der Kirche abgekratzt
und darüber gestrichen hatten,
war die Schrift an der Wand
noch immer zu lesen. Diesmal in Gelb.
Die Stellen, auf denen der Nitrolack geklebt hatte,
nahmen die neue Farbe nicht an,
die Schrift schlug durch.
Und so blieb es dabei:
Die sechzehn Buchstaben, die im Auftrag
des städtischen Hochbauamtes
mit aller handwerklichen Kunst
die Firma Julius Hembus entfernen sollte,
waren unbesieglich.
Als nächstes werden die Hembus-Maler
die gesamte Front der Kirche neu streichen.
Oder wenn das nichts hilft
die Kirchenwand entfernen.
Wäre es da nicht besser, sie würden
die unbesiegliche Inschrift stehenlassen
und sie fachmännisch, gerade und sauber
ausmalen, sie so noch verschönernd?
Die Geschichte war schneller
als die Hembus-Maler,
schneller als deren Auftraggeber
von der Stadtverwaltung
und schneller als deren Auftraggeber
in Bonn und Washington –
inzwischen nämlich ist
So laßt uns – in allen Sprachen der Welt –
neue Parolen schreiben
nicht nur an Kirchenwände:
Für die Verwirklichung des Pariser Vietnam-Abkommens!
Für die Erhaltung des Friedens!
Für die Vollendung der Unabhängigkeit und Demokratie in Vietnam!
Siegesfeier im Mai 1975
Anmerkung 1:
Am 28. Januar 1973 trat in Südvietnam der im Vietnam-Abkommen vereinbarte Waffenstillstand in Kraft. Die Unterzeichnung des Abkommens war ein Sieg des vietnamesischen Volkes über die Aggressoren und ein Sieg der Solidarität der fortschrittlichen Kräfte der Welt.
Anmerkung 2:
„Die unbesiegliche Inschrift, 1973“ wurde geschrieben zum 75. Geburtstag Bertolt Brechts am 10. Februar 1973. Das Gedicht entstand in Anlehnung an Brechts „Die unbesiegliche Inschrift“.
Anmerkung 3:
Erst am 1. Mai 1975 konnte der endgültige Sieg über die US-Aggressoren und ihre vietnamesischen Marionetten gefeiert werden; im April 1976 schlossen sich Nord- und Südvietnam zur Sozialistischen Republik Vietnam (SRV) zusammen.
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