RotFuchs 221 – Juni 2016

Ein Kommentar aus Moskau, 1945 in
der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht

Die Vernichtung des Nazismus
ist die Hauptaufgabe

RotFuchs-Redaktion

Im Moskauer Rundfunk hörten wir in deutscher Sprache folgende interessante Ausführungen: „Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und der Besetzung durch die Truppen der Vereinten Nationen erwuchs den Siegermächten eine Anzahl überaus wichtiger politischer und praktischer Aufgaben.

Der Charakter und die Okkupationsmethoden in Deutschland ergeben sich aus den von der Krim-Konferenz sehr exakt formulierten Aufgaben: die Vernichtung des Nazismus und des deutschen Militarismus und die Schaffung der Garantie, daß Deutschland nie mehr imstande sein wird, den Frieden der Welt zu stören. Das ist das Ziel.

Titelseite der „Berliner Zeitung“ vom 2. Juni 1945

Titelseite der „Berliner Zeitung“ vom 2. Juni 1945

In den Beschlüssen der Krim-Konferenz sind auch die Mittel dafür angegeben: völlige Entwaffnung und Auflösung aller deutschen Streitkräfte, unwiderrufliche Vernichtung des deutschen Generalstabs als Träger des deutschen Militarismus; gerechte und schnelle Bestrafung aller Kriegsverbrecher, vollständige und unverzügliche Vernichtung der Nazipartei, der Nazigesetze, -Organisationen und -einrichtungen; Beseitigung jedes nazistischen und militärischen Einflusses auf die öffentlichen Einrichtungen sowie auf das Kultur- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes. Wie in den Beschlüssen der Krim-Konferenz festgelegt, ist es selbstverständlich nicht die Aufgabe der Vereinten Nationen, das deutsche Volk zu vernichten.

In dem von der Roten Armee besetzten Teil Deutschlands sind alle deutschen Streitkräfte entwaffnet und aufgelöst. Alle eingefangenen Kriegsverbrecher, sowohl die Vertreter der Nazibehörden als auch die Vertreter des deutschen Generalstabs und andere Militaristen, werden dem Gericht nicht entgehen. Die Richtschnur der Sowjetbehörden ist die erbarmungslose Behandlung der Naziverbrecher bei gleichzeitiger humaner Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung, falls sie, wie J. W. Stalin in seinem Mai-Befehl feststellt, die Forderungen der alliierten Behörden loyal erfüllt.

Dieses Programm dürfte absolut klar und genau sein und keinerlei Kommentar erfordern. Manchen ausländischen Organen und Pressevertretern leuchtet dies allerdings nicht ein. So ist z. B. der Londoner ,Economist‘ beunruhigt, weil sich die Sowjetunion lediglich als Feind des Faschismus und nicht als Feind jedes Durchschnittsdeutschen zeigt. Das Blatt wundert sich über den Unterschied, den die Russen zwischen den Faschisten und dem deutschen Volk machen. Der ,Manchester Guardian‘ fragt besorgt, worauf es zurückzuführen sei, daß in Deutschland wieder deutsche Musik gesendet wird, und ob dies nicht zu einer Wiederbelebung des Preußentums führen werde.

Wie die Wiedereröffnung der Lebensmittelgeschäfte und die Rundfunkübertragung von Beethoven-Symphonien zu einer Wiederbelebung des Preußentums führen können, ist ein Geheimnis des diplomatischen Kommentators, der solche Fragen stellt. Es ist immerhin ein Unterschied, ob man den Naziverbrechern Brathühner und Cocktails vorsetzt oder ob man Dutzende Krankenhäuser mit den notwendigen Lebensmitteln versorgt, wie es die sowjetischen Militärkommandanturen machen. Jede amerikanische oder englische Frau wird diesen Unterschied verstehen.“

„Berliner Zeitung“, 2. Juni 1945