Zur Dialektik des Untergangs von UdSSR und DDR
Die Würfel fielen in Moskau
Im RF vom Oktober 2013 schreibt Klaus Liebrenz aus Rostock: „Immer wieder suchen Leser und Autoren des ,RotFuchs’ nach den Ursachen für den Untergang der DDR.“ Er fügt hinzu: „Wir haben doch immer unser Bestes gegeben.“ Ich will einmal so antworten: Ob wir „immer unser Bestes gegeben haben“, die DDR aufzubauen und zu gestalten, dürfte wohl von deren früheren Bürgern recht unterschiedlich bewertet werden. Selbst ihren entschlossensten Verteidigern fällt im nachhinein immer noch etwas Besseres ein. Doch wer nach den Ursachen des Desasters von 1989/90 nur bei der DDR sucht, wird diesen wohl vergeblich nachspüren.
Die DDR ist nicht an sich selbst gescheitert – wenn scheitern hier überhaupt der richtige Begriff ist. Woran aber dann? An der Sowjetunion, einem bestimmten Kreis in der politischen Führung der KPdSU? „Wer verriet die Sowjetunion?“ lautet der Titel eines Buches von Jegor Ligatschow, den man immerhin als den „zweiten Mann“ nach Gorbatschow zu betrachten hatte. Er gehörte, wie man weiß, nicht zur Riege der Verräter, war aber viele Jahre in einer Spitzenfunktion tätig. Hat er von all dem nichts wahrgenommen?
Man setzte auf „Reformen“ – alle wollten sie, auch er, gibt Ligatschow in seinem Buch zu erkennen. Wurde der Reformbegriff von einigen vielleicht nur benutzt, um den Verrat sicherer vorbereiten zu können? Und wieso ließ sich die mächtige Sowjetunion unter dem Vorwand einer Reform zur Konterrevolution verführen? Sie muß doch in dieser Etappe von Schwäche befallen gewesen sein, daß man das Land so schnell auf den Begriff Reform einstimmen konnte. Die Vorstellung, man könne einer starken, sogar noch an Kraft gewinnenden UdSSR eine Reform aufschwätzen, welche nur deren Ende einläutet, ist doch wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Als man in Moskau Schwäche oder abnehmende Möglichkeiten von Stärke erkennen ließ, wurde es leichter, die Führung von Partei und Staat in Selbstzweifel zu stürzen.
Man muß also die Veränderungen in der inneren und äußeren Lage der UdSSR berücksichtigen, ja sogar zum Ausgangspunkt von Überlegungen über Ursachen des Untergangs der Sowjetunion und damit auch der DDR machen, um zum Verstehen der Ereignisse zwischen 1989 und 1991 zu gelangen. Mit anderen Worten: In den 80er Jahren hatte man ohne Zweifel von einer völlig anderen Sowjetunion auszugehen als jener, die wir lange Zeit gewohnt waren. Denn ihr „Untergang“ ist primär, jener der DDR sekundär. Daraus ergab sich nicht zuletzt auch die außergewöhnliche Schwäche des Reagierens der DDR-Führung auf jene „dramatischen Ereignisse“, von denen Erich Honecker sprach. Der DDR blieb angesichts dieses Untergangs-Szenarios der Sowjetunion nicht mehr die Wahl einer eigenständigen Option.
Die Frage muß also lauten: Die DDR ist untergegangen, aber trifft das auch in gleicher Weise auf die Sowjetunion, zumindest ihren russischen Teil, zu? Ist Rußland wie die DDR als Staat liquidiert worden? Träfe das zu, dann wäre es heute in anderer Staaten Hand, einem anderen Kapitalismus zugeschlagen, z. B. dem der USA, vielleicht sogar in Komplizenschaft mit dem deutschen. Wenn aus Rußland so etwas nicht geworden ist, dann offenbart das die Tatsache, daß die Sowjetunion – auch wenn die UdSSR als Vielvölkerstaat durch Verrat liquidiert wurde – insgesamt nicht „zusammengebrochen“ ist. Ihr gesellschaftliches System hat sich in allen früheren Sowjetrepubliken – sieht man von Belarus ab – fundamental verändert, aber die Russische Föderation ist nach wie vor ein Staat mit eigener geschichtlicher Ausstrahlung – anders als die DDR. Bei der Bewertung der dortigen Konterrevolution könnte man von einer Rückverwandlung aus einem sozialistischen in einen bürgerlichen Nationalstaat sprechen. Bei Wiederherstellung kapitalistischer Strukturen blieb das Land vom äußeren Kapitalismus relativ unabhängig. Sämtliche anderen sozialistischen Staaten Europas gerieten wie die DDR in ein „westliches“ Gesellschaftssystem, was entweder in staatlicher (DDR) oder zumindest in Form ökonomischer Abhängigkeit von den USA und der EU erfolgte. Deshalb muß man auch davon ausgehen, daß sich die Konterrevolution in Rußland von der in den anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas unterscheidet. Es ist an der Zeit, deren Verlauf und Ergebnisse in den einzelnen Ländern differenzierter zu betrachten.
Ist die Gesellschaftsordnung der Bewertungsmaßstab, dann fiel die Sowjetunion einer Restauration bürgerlicher Macht- und Eigentumsverhältnisse zum Opfer. Also dem, was wir gemeinhin unter Konterrevolution verstehen. Ist aber der Staatsbestand das Maß, dann blieb dieser in Rußland unter neuem Namen und in anderer Form erhalten.
Unter sozialökonomischem Aspekt ist Rußland zwar kapitalistisch geworden, wurde indes nicht vom internationalen Kapital vereinnahmt. Den Wandel hat hier eine von innen initiierte Konterrevolution herbeigeführt, wie sie im Kalten Krieg vom Westen anvisiert worden war. Doch es handelte sich nicht um einen „durch den Westen hineingetragenen“, sondern einen von verräterischen Kräften im eigenen Land herbeigeführten Systemwechsel, eine gesellschaftliche Rückwärtsentwicklung.
Man darf nicht übersehen, daß Rußland, welches sich staatlich aus einem direkten Verhältnis zum Sinnen und Trachten der revolutionären Arbeiterbewegung gelöst hat, dennoch in gewisser Weise den Zusammenhalt mit jener anderen Bewegung sucht, die ebenfalls unter der Ägide der Sowjetunion und ihrer Systempartner entstanden ist: der nationalen und demokratischen Befreiungsbewegung, dem Aufstand der kolonialen und abhängigen Länder gegen imperialistische Mächte. Rußland versteht sich offensichtlich ihr noch zugehörig und übt Einfluß auf sie aus. Das ist auch gut so, wenn man nur an die Rolle Moskaus im Syrienkonflikt denkt.
Es geht also darum, den „Untergang des Sozialismus in der DDR“ nicht allein und in erster Linie an der DDR selbst festzumachen – jenes Mitgliedsstaates von RGW und Warschauer Vertrag, dessen politische Führung im Unterschied zur Gorbatschow-Clique und manch anderen keine Preisgabe des Sozialismus betrieb. Doch auch das sei gesagt: Wie Revolutionen sind auch Konterrevolutionen nur Etappen der Geschichte – sie haben einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende.
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