Millionen türkische Wähler wiesen Erdogan in die Schranken
Diktator scheiterte an Linkspartei HDP
Tayyip Erdogan – von 2002 bis 2014 Ministerpräsident und seit August vergangenen Jahres Staatschef der Türkei – hatte sich den Ausgang der Parlamentswahlen vom 7. Juni bereits paradiesisch ausgemalt. Eine absolute Abgeordnetenmehrheit seiner rabiat-islamistischen und mit äußerster Brutalität gegen alle Fortschrittskräfte des Landes vorgehenden Gerechtigkeitspartei (AKP) sollte ihm den Weg für ein noch drakonischeres Regime mit unbeschränkter Machtfülle freimachen. Eine Präsidialherrschaft nach französischem Muster und mit türkischem Dekor war von dem als „Sultan“ karikierten Staatschef angedacht worden. Übrigens hatte Erdogan, der seine politischen Gegner gnadenlos verfolgt, im Wahlkampf unter Verletzung der einem Präsidenten auferlegten parteipolitischen Neutralitätspflicht, unablässig auf Massenkundgebungen zur Wahl der AKP aufgerufen. Um die „neue Türkei“, wie der Präsident sein Projekt irreführenderweise nannte, auch würdig repräsentieren zu können, hatte er bereits eine entsprechende Kommandozentrale ins Auge gefaßt: Für 278 Millionen Euro sollte ein Sultanspalast von der Größe des Versailler Schlosses mit nicht weniger als 1000 Räumen hingestellt werden. Am 29. Mai – dem 562. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels – und mitten im Wahlkampf gab Erdogan selbst den Startschuß für diesen Bau eines Megalomanen.
„Die Wahlen am 7. Juni werden eine neue Errungenschaft sein, so Allah will!“ verkündete er vor einer im Istanbuler Stadtteil Yenikapi zusammengetrommelten Menge fanatisierter AKP-Anhänger.
Doch Allah wollte nicht: Um die Verfassung in dem durch Erdogan angestrebten Sinne ändern, also außer Kraft setzen zu können, hätte seine Partei eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze erringen müssen. Aber es reichte nicht einmal für die einfache Majorität. Selbst hierzu fehlten der AKP, die nur auf 40,7 % der Stimmen kam, 18 Sitze.
Die beiden Hauptkonkurrenten der Partei des Präsidenten – die rechtssozialdemokratische Republikanische Volkspartei (25,1 %) und die im Vergleich mit der AKP kaum weniger reaktionäre Nationalistische Aktion (16,4 %) konnten nur zum Teil aus der herben Niederlage des Möchtegern-Alleinherrschers Honig saugen. Während die erstgenannte Gruppierung sogar zwei Sitze verlor, konnte die zweite – im Grunde eine Kopie der AKP – die Anzahl ihrer Mandate von 53 auf 82 erhöhen.
Für eine echte Überraschung und Erdogans Debakel aber sorgte die linksgerichtete und sich in die Tradition der mutigen Widerstandshelden vom Istanbuler Taksim-Platz stellende Demokratische Volkspartei (HDP). Die ursprünglich als progressive Kurdenpartei in den Kampf gezogene Formation, die inzwischen von einem breiten Spektrum fortschrittlicher Kräfte einschließlich türkischer Kommunisten unterstützt wird, übersprang die enorm hohe Schranke von 10 Prozent, die das Eindringen widerständischer Gruppierungen der Arbeiter- und Volksbewegung in das Parlament verhindern soll. Mit einem Stimmenanteil von 12,98 % errang sie 79 der 550 zu vergebenden Sitze.
Vor den Parlamentswahlen im Juni 2011 hatte Erdogan, der nach dem Staatsbankrott der Türkei (2002) ans Ruder gekommen war, noch durch beeindruckende wirtschaftliche Erfolge punkten können. Das Land am Bosporus – eine Brücke zwischen zwei Kontinenten – drang auf den 15. Platz unter den ökonomisch stärksten Staaten der Welt vor. Seine wirtschaftliche Wachstumsrate betrug damals spektakuläre 8,9 %, während sich das Bruttoinlandsprodukt der Türkei erstmals auf 10 500 Dollar pro Kopf der Bevölkerung belief. Das war eine Verdreifachung innerhalb von etwa zehn Jahren. Zugleich sanken die Inflationsrate auf 4 % und die Arbeitslosigkeit auf 9 %.
Drei Jahre nach diesem außergewöhnlichen Erfolgserlebnis war dem „türkischen Wunder“ viel Luft entwichen. Zwischen 2013 und 2014 sank die Wachstumsrate der Türkei von vier auf zwei Prozent, während die Durchschnittseinkommen auf 580 Euro im Monat zurückgingen. Nach offiziellen Angaben vegetieren derzeit etwa 15 % der Türken unterhalb der Armutsschwelle.
So konnte Erdogan diesmal auf ökonomischem Gebiet kaum noch Pluspunkte sammeln. Seine großspurige Ankündigung, er werde das Land bis 2023 – zum 100. Jahrestag der Gründung des modernen türkischen Staates durch Mustafa Kemal (Atatürk) – in den „Klub der zehn reichsten Länder der Welt“ führen, verhallte wie ein Ruf in der Wüste.
Doch noch einmal zurück zur HDP. Erst im Juli vergangenen Jahres in der Nachfolge der kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die im Parlament über eine weitaus geringere Zahl mit ihr sympathisierender oder verbundener Mandatsträger verfügte, entstanden, hat sich die HDP durch eine Reihe kühner Aktionen für die Rechte von Frauen, Jugendlichen und diskriminierten religiösen Minderheiten weit über die Kurdengebiete Ostanatoliens hinaus Sympathie erworben. Der in Medienberichten bisweilen bereits mit Griechenlands Syriza und Spaniens Podemos verglichenen Partei gebührt das Hauptverdienst daran, daß die der Türkei drohende Alleinherrschaft Erdogans abgewendet werden konnte.
Der „RotFuchs“ gratuliert den mutigen Kämpfern für die Rechte der Kurden und aller anderen Unterdrückten in der Türkei.
RF, gestützt auf „Avante!“, Lissabon, „Solidaire“, Brüssel, und „l’Humanité!“
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