Domino-Praxis in Lateinamerika
Brasiliens Opposition entert das Machtzentrum des Staates. Bei der Abstimmung im April über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff im Parlament gebärdete sich die Mehrheit der Abgeordneten wie im Tollhaus. Sie beriefen sich auf Gott, die Werte der Familie, verdammten die Korruption und priesen offen die Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 das Land beherrschte. „Es war die surrealste Sache, die ich als Journalist, der in verschiedenen Ländern tätig war, je gesehen habe“, beschrieb der US-Reporter Glenn Greenwald gegenüber CNN eine politische Farce mit konstruierten Vorwürfen zu Haushaltszahlen. Die Nebelmaschine reicht weit: „Der brasilianischen Staatschefin wird Korruption zur Last gelegt“, behauptet so fälschlich die Agentur AFP. Daß der Prozeß auch den Senat passiert, kann als sicher gelten. Rousseff wird dann zunächst suspendiert, und ihr Vize Michel Temer von der PMDB übernimmt das Ruder. Eine Absetzung der Staatschefin ohne Nachweis schweren Amtsmißbrauchs kann als parlamentarischer Putsch bezeichnet werden. Der Vorgang unterstreicht, daß nach fast zwei Jahrzehnten der Dominanz progressiver Regierungen in der Region die Rechte in Lateinamerika die Initiative zurückgewonnen hat. Das mächtigste Land Südamerikas mit der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt ist ein entscheidender Stein in deren Spiel.
Es ist ein Staatsstreich ohne Panzer und Geschütze, dafür begleitet vom infernalischen Dauerfeuer der großen Konzernmedien auf die seit 2003 in Brasília regierende Arbeiterpartei. Die „vierte Gewalt“, deren Macht besonders der Globo-Konzern verkörpert, spielt für die Rechtswende im Land eine entscheidende Rolle. Ebenso die Hilfestellung der Justiz. Dilma Rousseff und der zu ihrem neuen Kabinettschef erkorene Expräsident Lula da Silva wurden ungeahndet Opfer illegaler Abhöraktionen, höchste Richter sabotieren das Funktionieren der Regierung. Auf einen Stop des Umsturzes auf dem Rechtsweg richten sich nur schwache Hoffnungen. Wie bei Lula versuchten rechte Richter auch Rousseffs neuen loyalen Minister für Justiz, Eugênio Aragão, an seiner Amtsübernahme zu hindern. Das politische Chaos ist gewollt, und die Regierung starrte auf den sich anbahnenden Coup der Rechten zu lange wie das Kaninchen auf die Schlange. Lulas zu später Einstieg in den Ring als populärster Politiker des Landes war ein taktischer Fehler. Weder Lula noch Rousseff wagten Reformen, um die Macht der Konzernmedien zu begrenzen. Ihre Politik holte zwar Millionen aus der Armut, konnte aber den verbreiteten politischen Analphabetismus kaum zurückdrängen.
Dem Parlament sitzt ausgerechnet der PMDB-Politiker Eduardo Cunha vor, der auch die Impeachment-Sitzung leitete. Politische Überzeugungsarbeit wird in der von den Rechten beherrschten Deputiertenkammer mit 25 Parteien traditionell als Vetternwirtschaft mit Posten und Geld, viel Geld, betrieben. Zur Durchsetzung ihrer Agenda hatte sich einst auch die Arbeiterpartei auf solche Spielregeln eingelassen, was ihrem Prestige erheblich schadete. Korruptionsfälle in ihren Reihen wurden und werden sensationalistisch ausgeschlachtet. Derzeit 352 Abgeordnete sehen sich mit Ermittlungen und Anklagen wegen Korruption, Geldwäsche oder Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Rousseffs Projekt einer Politikreform stößt hier auf Granit. Cunha darf als Pate der korrupten Politikerkaste gelten. Anders als die Präsidentin steht er tatsächlich unter Anklage – die verschleppt wird – und hat Millionen aus dunklen Quellen auf Schweizer Bankkonten gebunkert. Hinter sich weiß die Rechte im Parlament und auf der Straße auch den mächtigen, ressourcenstarken Unternehmerverband FIESP mit Sitz in São Paulo.
Das Zweckbündnis der PMDB mit der Mitte-rechts-Partei PSDB ist fragil und Temer äußerst unpopulär. Doch der Vizepräsident sieht sich bereits als ersten Mann im Staat und formiert sein Team. Unter der Losung „Eine Brücke in die Zukunft“ möchte Temer den Einfluß des Staates in der Wirtschaft zurückdrängen, soziale Programme sollen gekürzt werden. Das US-Kapital klopft an seine Tür und will Zugriff auf Brasiliens Ölkonzern Petrobras. Gefährdet sind die Brücken zu einer fortschrittlichen lateinamerikanischen Integration. Dilma Rousseff kämpft auch in beinahe aussichtsloser Lage weiter um ihr Amt. Die linken Parteien und sozialen Bewegungen unterstützen sie und beweisen, daß sie Millionen mobilisieren können. Ihnen stehen schwere Abwehrkämpfe bevor.
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