Was eine Londonerin hinter dem „Eisernen Vorhang“ entdeckte
„Eastern Germany“ aus britischer Sicht
Die DDR – in Britannien als Ostdeutschland bekannt – ist jenes Land, welches ich außer meinem eigenen am besten kennengelernt habe. 1969 besuchte ich es erstmals mit einer Gruppe junger Leute. Damals fuhr man uns nach Leuna und Buna, wo wir die gigantischen Chemischen Werke in Augenschein nahmen.
Der überwiegende Teil Ostdeutschlands, das dann die DDR wurde, war anfangs agrarisch. Die DDR mußte ihre Industrie selbst aufbauen. Dabei stellten die Chemischen Werke insofern eine Ausnahme dar, als sie ja schon zuvor existiert hatten. Jetzt aber waren sie Volkseigentum, so daß aus dem Mehrprodukt kein Profit mehr gezogen werden konnte.
In Leuna/Buna sahen wir imponierende Lehrwerkstätten und erfuhren, daß die Unterweisung zunächst in Grundlagenfächern erfolgte, bevor eine spezifische Ausbildung für die Chemieindustrie beginnen konnte. So wurden die Lernenden nicht zeitlebens an nur einen Job gebunden. Sie hatten zuvor bereits die zehnklassige Polytechnische Oberschule absolviert, die für alle Kinder und Jugendlichen der DDR einheitliche Lehrpläne bereithielt.
Polytechnik galt als der Oberbegriff für die Verbindung von Theorie und Praxis. Jeder lernte dort deutsche Sprache und Literatur, Mathematik, Naturwissenschaften, eine Fremdsprache, Geschichte und Erdkunde, erwarb aber zugleich auch handwerkliche und für eine künftige Betriebsarbeit nützliche Kenntnisse:
Diese Bildungseinrichtung beeindruckte mich als Britin besonders, weil deutsche Schulen vor 1945 generell als Brutstätten faschistischer Ideologie gedient hatten. Eine der ersten Taten der nun zum Zuge Gekommenen bestand darin, die meisten bisherigen Lehrer aus dem Schuldienst zu entfernen und durch Antifaschisten zu ersetzen, die nach völlig neuen Lehrplänen unterrichteten. Die Lehrer jener Jahre waren echte Helden. Ganz und gar unerfahren, übernahmen sie es, eine Arbeit von vitaler Bedeutung in ihrem vom Krieg zerstörten Land mit einer durch den Faschismus 12 Jahre lang irregeführten Bevölkerung zu verrichten.
Ungefähr 20 Jahre später waren die jungen Leute, denen ich nun in der DDR begegnete, der lebendige Beweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Frauen wie Männer zeichnete Selbstvertrauen aus. Das alte Motto „Kinder-Kirche-Küche“, das die den Frauen traditionell zugewiesene Rolle ausdrückte, lebte sicher noch in den Vorstellungen älterer Leute fort. Doch gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Zugang zu Bildung und Erziehung, ein landesweites System bestens ausgestatteter und nahezu kostenfreier Krippen und Kindergärten mit hervorragend geschultem Personal – all das führte dazu, daß Chancengleichheit Realität werden konnte.
Ein anderer Vorteil waren die extrem niedrigen Mieten und der planvolle Aufbau ganzer Wohnkomplexe. 1969 besichtigten wir Halle-Neustadt. Jedes Viertel hatte, was im Westen keineswegs selbstverständlich ist, seine Schulen, Gesundheits- und Erholungseinrichtungen sowie Geschäfte in Reichweite. Ein modernes Schwimmbad war gerade im Bau. Bis 1989 konnte die Wohnungsfrage zwar nicht in jedem Einzelfalle, aber als soziales Problem gelöst werden.
Seit den 70er Jahren war die DDR auch von den kapitalistischen Staaten anerkannt worden. Sie unternahm vieles, um auf den meisten Gebieten einigermaßen autark zu sein. Mit dem Ziel, die Industrie weiter voranzubringen, schuf man z. B. die „Messen der Meister von morgen“. Junge Leute wurden dadurch zu Erfindungen ermutigt, die in Ausstellungen gezeigt wurden, um wieder andere zu inspirieren.
Da die knappen Devisen für wichtige Dinge ausgegeben werden mußten, blieb manches eher Zweitrangige auf der Strecke. 1969 nahm ich hier und dort ein Grollen über den Mangel an modischem Chic wahr, doch junge Frauen berichteten mir über eine von ihnen gefundene Lösung: Sie fertigten bestimmte Kleidungsstücke eben selbst an.
Während bei manchen Konsumgütern Lücken im Angebot klafften, herrschte auf anderen Gebieten kein Mangel. So war das Recht auf Urlaub materiell hervorragend untersetzt. Überall in der DDR wurden Sommerlager für Kinder und Jugendliche organisiert. Es gab ein dichtgespanntes Netz von Ferienheimen, die den Gewerkschaften oder volkseigenen Betrieben gehörten. Ein 14tägiger Aufenthalt war für jedermann erschwinglich.
In den 80er Jahren lernte ich mit meinen Kindern drei dieser Heime kennen. Sie befanden sich in landschaftlich schön gelegenen Ortschaften. Die Gebäude waren in gutem Zustand, die Räume sauber und hell, das Essen nahrhaft und reichlich. Gemeinsame Ausflüge, kulturelle und gesellschaftliche Veranstaltungen und Tischtennisturniere für Kinder gehörten zum Programm.
Als die sozialistischen Länder noch existierten, sprach man in den britischen Medien ständig davon, daß deren Bürgern Urlaubsreisen in den Westen verwehrt würden. Es gibt wohl zwei Hauptgründe dafür, daß nur wenige DDR-Bürger privat in Länder Westeuropas reisen konnten: Einerseits stand kaum entsprechende Valuta für solche Zwecke zur Verfügung, andererseits begegneten die NATO-Staaten den sozialistischen Ländern mit äußerster Feindschaft. Und auch das sollte man bedenken: Als die Grenze vor dem Bau der Berliner Mauer noch offen war, unternahm die reichere Bundesrepublik alles, um DDR-Fachkräfte durch In-Aussicht-Stellen höherer Gehälter und anderer Anreize in den Westen zu locken. In den sozialistischen Ländern erfolgte die Ausbildung auf Arbeiterkosten jedoch nicht in der Absicht, die Profite irgendwelcher Kapitalisten außerhalb des Landes erwirtschaften zu helfen.
Niemand spricht oder schreibt übrigens darüber, wie Briten und anderen Bürgern westlicher Staaten systematisch davon abgeraten wurde, ihren Urlaub in sozialistischen Ländern zu verbringen. Bei uns wurden solche Reisen oftmals für schlechthin unmöglich gehalten. Andererseits gab es die Vorstellung, dort nichts Sehenswertes vorzufinden.
Mir ging es ganz anders: 1988 entdeckte ich in der Sächsischen Schweiz eine spektakuläre Felsenlandschaft. Etliche Male verlebte ich sehr erfreuliche Ferien als Einzeltouristin in Ungarn, Bulgarien und der DDR. Eine Episode: Nach zweiwöchigem Urlaub in Stralsund reichten wir dem DDR-Grenzposten ahnungslos unsere Pässe. Der war – gelinde gesagt – „mild verwundert“, als er feststellte, daß wir es verabsäumt hatten, uns bei der Einreise volkspolizeilich anzumelden. Wir entschuldigten uns für diese Nachlässigkeit und warteten ab, was nun geschehen würde. Nach kurzer Beratung mit seinem Vorgesetzten winkte uns der Grenzer zu sich. Wir sollten uns keine Sorgen machen, meinte er. Obwohl wir uns gewissermaßen illegal in der DDR aufgehalten hatten, war das von niemandem bemerkt worden. Ein Polizeistaat?
Der Sozialismus war ein Gesellschaftssystem, das sich noch in der Entwicklung befand. Doch welche Schwächen und Fehler ihm auch immer angehaftet haben – es war die bisher größte Errungenschaft der internationalen Arbeiterklasse, lieferte es doch den Beweis, daß es eine Alternative zum Kapitalismus gibt. Deshalb – und nur deshalb – gaben die Kapitalisten Billionen aus, um die Macht der Werktätigen zu untergraben und – zumindest in Europa – vorerst wieder zu liquidieren.
Unsere Autorin zählt zu den Herausgebern der in Glasgow erscheinenden Vierteljahres-Zeitschrift „The Socialist Correspondent“.
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