Egon Krenz:
Zu den Gründen unserer Niederlage (Teil 1)
Egon Krenz
Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind.
Friedrich Engels (MEW, Bd. 21, S. 201)
Meine Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,
Rolf Berthold, langjähriger Botschafter der DDR in der Volksrepublik China, und ich sind als Zeitzeugen zu dieser bedeutenden Konferenz gekommen. Gern nehme ich auch seine Redezeit für mich in Anspruch.
Seit 1984 habe ich an den Beratungen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Staaten des Warschauer Vertrages auf höchster politischer Ebene teilgenommen. Aus eigenem Erleben kann ich daher bezeugen, daß die Partei- und Staatsführungen der sozialistischen Staaten Europas auf die seit Anfang der achtziger Jahre entstandene tiefe Systemkrise nicht vorbereitet waren. Im Oktober 1981 hatte KPdSU-Generalsekretär Breschnew Erich Honecker mitteilen lassen, daß sich die Sowjetunion in einer ähnlich schwierigen Lage befände wie Sowjetrußland 1918 vor Abschluß des Brester Friedensvertrages. Das konnte ja nur bedeuten: Es ging um Sein oder Nichtsein der Sowjetmacht!
Die Tragik besteht darin, daß diese dramatische Mitteilung nie durch die Staaten des Warschauer Vertrages kollektiv erörtert wurde und folglich daraus auch keine Schlußfolgerungen gezogen wurden. Das Nachlassen der ökonomischen Leistungskraft der RGW-Länder hatte große wirtschaftliche, soziale und schließlich auch politische, ideologische und moralische Auswirkungen auf die Bevölkerung. Das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Staat wurde in allen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft erheblich gestört.
Versäumt wurde, die ökonomischen Potentiale mit dem Ziel zu vereinen, den Rückstand in der Arbeitsproduktivität gegenüber dem Kapitalismus aufzuholen. Die Staatengemeinschaft erwies sich als unfähig, den Sozialismus mit der wissenschaftlich-technischen Revolution zu verbinden. Ansätze dazu blieben in der Regel stecken aus nationalem Egoismus von Teilnehmerstaaten. Gleichzeitig gab es keine kollektive Zurückweisung der Provokation von US-Präsident George Bush sr., der die NATO-Länder aufgefordert hatte, die Sowjetunion – ich zitiere – „ in die Wertegemeinschaft des Westens“ zu holen, was gleichbedeutend mit der Liquidierung des Sozialismus war.
Die „Perestroika“- und „Glasnost-Politik“ der sowjetischen Führung gab keine konstruktive Antwort auf die entstandene Systemkrise. Sie trug nicht zu einer „Erneuerung des Sozialismus“, sondern zu seinem europäischen Niedergang bei. Aus der von Gorbatschow beabsichtigten „zweiten Oktoberrevolution“ wurde letztlich eine Konterrevolution, die von verschiedenen Fraktionen in der KPdSU initiiert wurde und letztlich zur Zerschlagung der UdSSR führte.
Das Schicksal der DDR war in guten wie in schlechten Zeiten auf das engste mit dem der Sowjetunion verbunden. Auch wenn sich die DDR kalendarisch vor der Sowjetunion aus der Geschichte verabschiedet hatte, ist ihr Untergang ursächlich mit dem der Sowjetunion organisch verbunden. Die UdSSR stand 1949 an der Wiege der DDR und sie hat schließlich auch mit ihrer Unterschrift unter den „Zwei-plus-vier-Vertrag“ ihren Untergang besiegelt.
Mit dem Verschwinden des europäischen Sozialismus von der politischen Landkarte wurde die deutsche Zweistaatlichkeit obsolet, verlor die DDR ihre Daseinsberechtigung als selbständiger Staat. Für zwei kapitalistische deutsche Staaten gab es weder objektiv noch subjektiv eine Notwendigkeit.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist aber, daß das Streben der von den USA geführten NATO um die Neuordnung der Welt eng verbunden ist mit einem erbitterten ideologischen Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und damit auch des real existierenden Sozialismus auf dem europäischen Kontinent.
Der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts war legitim. Der Begriff „real existierender Sozialismus“ bedeutete ja nicht – wie das gewisse Ideologen unterstellen – daß wir den Sozialismus bereits in Vollkommenheit verwirklicht glaubten. Vielmehr wurde damit das dialektische Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit betont. Es galt, die Realität am Ideal auszurichten, was selbstverständlich als ein langwieriger historischer Prozeß verstanden wurde. Zudem bedeutete dieser Begriff eine Abgrenzung von allen möglichen pseudosozialistischen Theorien, die im Gegensatz zu Marx, Engels und Lenin standen, vor allem zu der Utopie, es könnte einen fehlerfreien Sozialismus ohne Widersprüche geben.
Die historisch korrekte, differenzierte und damit gerechte Bewertung des vergangenen Sozialismus ist ein Zukunftswert. Wer für einen neuen Sozialismus kämpfen will, muß sowohl die Vorzüge als auch die Unvollkommenheiten des vergangenen analysieren. Dies schließt ein, Antworten auf die Fragen zu finden: Was ist bewahrenswert am gewesenen Sozialismus, und was darf sich nicht wiederholen? Dabei ergeben sich zwei Grunderkenntnisse. Zum einen hat sich erwiesen, daß Sozialismus auch im Zentrum Europas möglich ist. Zum anderen wurde deutlich, daß der Sozialismus auch in der DDR im Wettbewerb der beiden Weltsysteme noch nicht bestehen konnte.
Gegenwärtig erleben wir eine absurde Erinnerungskultur. Die Schuld an der Spaltung des europäischen Kontinents wird einseitig der Sowjetunion angelastet. Mit einem nur auf Fehler, Mängel und Unzulänglichkeiten des realen Sozialismus sowie auf die Person Stalin verengten Blick wird die Geschichte Europas auf den Kopf gestellt. Zur Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird vor allem die Totalitarismusdoktrin benutzt. Sie hat eine antikommunistische und antisowjetische Ausrichtung. Sie enthält die Behauptung, rot sei gleich braun, d. h. Sozialismus sei gleich Faschismus. Das ist nicht nur eine Diskreditierung des gewesenen Sozialismus. Es ist vor allem auch eine Verharmlosung des deutschen Faschismus.
Der weltweit geschätzte deutsche Schriftsteller Thomas Mann wandte sich frühzeitig gegen die Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus, als er schrieb: „Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.“
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Gründung eines Staates in Ostdeutschland weder von der UdSSR noch von der SED gewünscht. Die UdSSR hatte an einer Spaltung Deutschlands aus eigenen Sicherheitsgründen kein Interesse. Wäre es nach dem Willen der UdSSR sowie der Kommunisten und Sozialdemokraten der sowjetisch besetzten Zone gegangen, wäre aus Deutschland – ich zitiere – „ein antifaschistisches, demokratisches Regime, eine parlamentarisch-demokratische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ geworden.
So steht es im Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945, der mit Stalin vereinbart worden war. Und weiter heißt es dort: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“
Die DDR entstand also erst, nachdem die Westmächte im Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet hatten. Die DDR wurde nicht gegründet, um Deutschland zu spalten. Deutschland war bereits gespalten, als die DDR gegründet wurde.
Die Geschichte zwischen 1945 und 1990 in Deutschland war eine permanente Auseinandersetzung zwischen zwei konträren Weltsystemen, zwei feindlichen Militärblöcken, zwei gegnerischen Staaten, zwei grundverschiedenen Idealen und zwei andersartigen Entwürfen für die Zukunft. Wer die DDR einen „Unrechtsstaat“ nennt, läßt solche grundlegenden geschichtlichen Zusammenhänge außer acht.
Wenige Tage nach ihrer Proklamierung – zunächst nur als provisorischer Staat – erhielten die Repräsentanten der DDR ein bemerkenswertes Telegramm aus Moskau. Es enthielt die konzentrierte sowjetische Strategie in der Deutschlandfrage. Der Absender war Stalin. Er schrieb: „Die Bildung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas.“ Um jedes Mißverständnis auszuschließen, die Gründung der DDR könne doch als Spaltung Deutschlands verstanden werden, endet das Telegramm mit dem Satz: „Es lebe und gedeihe das einheitliche, unabhängige, demokratische friedliebende Deutschland.“
Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, handelte jedoch nach dem Grundsatz „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb.“ Gegenüber dem französischen Außenminister prahlte er sogar: „Vergessen Sie nie, daß ich der einzige Regierungschef bin, der die Einheit Europas der Einheit seines Vaterlandes vorzieht.“ Die deutsche Nachkriegsgeschichte vollzog sich nicht vordergründig im Nationalen, sondern im Spannungsfeld der Großmächte. Deshalb kann man die DDR auch nicht isoliert vom Verhalten der Großmächte und auch nicht von dem der Bundesrepublik Deutschland betrachten.
1952 hatte die Sowjetunion gesamtdeutsche Wahlen für ein gesamtdeutsches Parlament vorgeschlagen. Die Westmächte, einschließlich der Bundesrepublik, lehnten ab. Sie betrachteten die sogenannte Stalinnote als sowjetische Propaganda. Seitdem wurden die Bedingungen für die deutsche Einheit von Jahr zu Jahr aussichtsloser. Die deutsche Spaltung wurde durch die Westintegration der Bundesrepublik zementiert.
Erst jetzt kam in der DDR 1952 der Aufbau des Sozialismus auf die Tagesordnung – und das unter Bedingungen eines gespaltenen Landes. Die daraus entstandenen Schwierigkeiten – wie die Spaltung einer früher einheitlichen Währung und Wirtschaft, die Zugehörigkeit zu einem der sich feindlich gegenüberstehenden militärischen Bündnisse, das Grenzregime zwischen ihnen und der Reiseverkehr der Bürger zwischen den Staaten – haben die DDR bis zu ihrem Ende belastet.
Den Westalliierten und den meisten Bundesregierungen war eine gleichberechtigte Vereinigung der BRD und der DDR stets suspekt. Sie setzten auf die „Befreiung des Ostens“. Von Adenauer stammt das Bekenntnis: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zuviel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.“
So ist es keineswegs verwunderlich, daß die deutsche Einheit 1990 nicht ein gleichberechtigter Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten war, sondern ein Anschluß der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Das Gesellschafts- und Rechtssystem der Bundesrepublik wurde der DDR administrativ diktiert, woran das Zusammenleben der Deutschen bis heute leidet.
Bestimmte bürgerliche Historiker verdrängen, daß beide deutsche Staaten von 1949 bis 1989 in einem erbitterten Bürgerkrieg standen. Kein heißer zwar, aber ein kalter, immer auch am Rande einer möglichen atomaren Katastrophe. Statt sich zu freuen, daß aus dem kalten kein heißer Krieg wurde, hat sich die politische Elite der alten Bundesrepublik 1990 dafür entschieden, alles Ungemach der Spaltung Deutschlands allein der DDR anzulasten. Deshalb wird bis in die Gegenwart hinein die wahre Geschichte der europäischen und deutschen Spaltung verzerrt dargestellt.
Trotz ihrer Defizite hat die DDR im Interesse der Menschen Beachtliches geleistet. Sie hatte ein menschenfreundliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Entscheidendes Motiv war nie das Profitinteresse, sondern die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Sie hatte ein geschlossenes System der sozialen Sicherheit, das Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kinder- und Altersarmut nicht kannte. Sie verfügte über ein einheitliches Bildungssystem, in dem es gleiche Chancen für alle Kinder des Volkes gab, ohne daß diese vom Geldbeutel der Eltern abhängig waren.
Unbestreitbar bleibt aber vor allem: Solange die Sowjetunion und mit ihr auch die DDR existierten, gab es in Europa keinen Krieg. Im Umkehrschluß bedeutet das allerdings auch: Das Verschwinden der DDR von der politischen Landkarte ist ebenfalls ein europäischer Wendepunkt. Zum ersten Mal nach 1945 wurde Krieg in Europa – sogar mit deutscher Beteiligung – wieder möglich. Die Vision eines friedliebenden Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg möglich schien, zerschellte, als die US-geführte NATO Jugoslawien bombardierte.
Das atlantische Bündnis machte auf diese Weise aus dem kalten einen heißen Krieg – mitten in Europa. Ich bin überzeugt, das wäre zur Zeit der Existenz der UdSSR undenkbar gewesen. Das Datum der Zerschlagung der Sowjetunion war für die NATO das Signal, ihr 1990 gegebenes Versprechen zu brechen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Aus dieser Gewißheit heraus teile ich auch die Analyse des Präsidenten Rußlands, Wladimir Putin, daß die Zerschlagung der Sowjetunion eine globalpolitische Katastrophe war.
Die Auswirkungen dieses Dramas erleben wir bis heute auf Schritt und Tritt. Vieles, was seit Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Welt durcheinandergeraten ist – ob in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Libyen oder anderen Teilen der Welt –, ist eng verbunden mit den Folgen der Zerschlagung der UdSSR und den Absichten der USA, den Rest der Welt nach ihren Vorstellungen zu formen.
Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR und letzte Vorsitzende der SED, Genosse Egon Krenz, hielt seinen Diskussionsbeitrag „Die Niederlage der DDR – Teil des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus in Europa“ auf einer wissenschaftlichen Konferenz „Der Marxismus im 21. Jahrhundert“ im Oktober vergangenen Jahres in Peking im Rahmen des Themas „Der Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Wiederbelebung des Sozialismus“. Den zweiten Teil seines Beitrags bringen wir im Februar-„RotFuchs“.
Wir weisen ausdrücklich darauf hin, daß das Thema seit Gründung des „RotFuchs“ immer wieder von vielen verschiedenen Autoren ausführlich behandelt wurde. Die Erfahrungen der Vergangenheit sind auch künftig unersetzlich, wenn wir eine menschlichere Zukunft erringen wollen.
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