RotFuchs 229 – Februar 2017

Egon Krenz:
Zu den Gründen unserer Niederlage (Teil 2)

Egon Krenz

Egon Krenz

Für den Untergang der DDR gibt es ein ganzes Knäuel von Ursachen: objektive und subjektive, nationale und internationale, ökonomische und politische, vermeidbare und unvermeidbare. Viele von ihnen gehen weit vor das Jahr 1989 zurück und über die Grenzen der DDR hinaus.

Müßte ich diesen ganzen Komplex in einem Satz zusammenfassen, würde ich an das Leninwort erinnern: „Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwich­tigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung.“ Wahrscheinlich haben wir damals in allen Staaten der europäischen sozialistischen Gemeinschaft nicht begriffen, daß dieser Satz im Umkehrschluß auch eine Warnung enthält, nämlich die: Die neue Gesellschaftsordnung wird unterliegen, wenn sie keine höhere Arbeitsproduktivität erreicht als der Kapitalismus.

Der historischen Gerechtigkeit wegen ist anzumerken, daß dies genau der Ausgangs­punkt für die strategischen Überlegungen Walter Ulbrichts Anfang der sechziger Jahre war. Mit dem Neuen Ökonomischen System sollte zu einer Leitung der sozialistischen Wirtschaft mit vorwiegend ökonomischen Mitteln übergegangen werden. Dieser hoffnungsvolle Versuch wurde leider 1970 abgebrochen, weil er nicht kompatibel war mit der Politik der KPdSU.

Es gibt viele Versuche, das Ende der DDR zu erklären. Es greift aber zu kurz, es lediglich auf nationale Gegebenheiten zu reduzieren. Selbst unter den Linken in Deutschland ist die einseitige Ansicht verbreitet, die DDR sei „an sich selbst gescheitert“.

Mindestens zwei weitere Komponenten haben wesentliches mit dem Untergang der DDR zu tun:

Erstens: Die Herrschenden in den USA und ihre Verbündeten wollten den Sozialismus vom ersten Tage seiner Existenz an liquidieren. Natürlich griffen sie Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Gelegenheit beim Schopfe und halfen kräftig nach. Gorbatschow sprach damals vom „neuen Denken“. Die Sache hatte nur einen Haken: Der Westen dachte überhaupt nicht daran, neu zu denken. Die NATO rüstete auf, während die UdSSR das militär-strategische Gleichgewicht aufgab, das viele Jahre der Garant dafür war, daß aus dem kalten kein heißer Krieg wurde.

Rückblickend auf 1989 erklärte Brent Scowcroft, Sicherheitsberater mehrerer amerikanischer Präsidenten: „Wir hatten einen Plan, Gorbatschow nicht.“ Das scheint mir der Kern der Sache zu sein, den ich mit eigenem Wissen aus meiner politischen Tätigkeit ergänzen kann: Zur Jahreswende 1988/89 gab mir Erich Honecker eine streng geheime Information zum Lesen. Er hatte sie von einer zuverlässigen Quelle aus dem Weißen Haus erhalten. Darin stand: „Der neue US-Präsident denkt nicht daran, eine strategische Partnerschaft zwischen den USA und der UdSSR, wie sie Gorbatschow anstrebt, einzugehen. Nicht die USA müßten Gorbatschow entgegen­kommen, sondern Gorbatschow müsse den USA entgegenkommen.“

Der Plan der USA wurde auf dem NATO-Gipfel in Brüssel Ende Mai 1989 erörtert. Die USA sahen in Folge der Entwicklung in der Sowjetunion die Chance, zu erreichen, was ihnen durch keinen heißen Krieg möglich geworden wäre: die UdSSR zur Kapitulation zu zwingen. In diesem Plan der Destabilisierung der sozialistischen Gemeinschaft besaß die DDR die Rolle eines Eckpfeilers. Mit der Beseitigung der DDR – so die Überlegung – würde die Sowjetunion einen strategischen Partner und ihr vorderstes Schild gegen die NATO verlieren.

Inzwischen ist klar, daß es den USA keineswegs nur um die deutsche Einheit ging. Sie war nicht ihr Hauptziel. Sie war ein Mittel, um die Streitkräfte der UdSSR aus dem Zentrum Europas zu drängen. Der Warschauer Vertrag wurde einseitig aufgehoben. Die NATO blieb. Die russischen Streitkräfte zogen aus Mitteleuropa ab. Die USA setzten sich hier fest. Sie haben in Deutschland nach wie vor Atomwaffen stationiert. Condoleezza Rice, die spätere Außenministerin der USA, bekannte freimütig: Mit dem vereinten Deutschland, eingebettet in die NATO, war „Amerikas Einfluß in Europa gesichert“.

Zweitens: Die DDR war Teil eines Ganzen. Untergegangen ist ein vorwiegend sowjetisch geprägtes Sozialismusmodell, das vom Stillen Ozean bis an die Elbe und die Werra reichte. Die DDR war ohne Bündnis mit der Sowjetunion nicht lebensfähig. Dieses Bündnis wurde Ende der achtziger Jahre durch die sowjetische Führung aufgekündigt. Nicht verbal, aber durch Tatsachen hinter dem Rücken der DDR-Führung.

Kürzlich haben Gorbatschow-Vertraute 1400 Seiten Protokolle über das politische Konzept ihres Chefs in den letzten Jahren der Sowjetunion veröffentlicht. Darin sind bemerkenswerte Aussagen auch zur „deutschen Frage“ enthalten. Wenn wahr sein sollte, was da drinsteht, trifft zu, daß Gorbatschow spätestens seit 1987 die DDR als Pfand nutzte, mit dem er wucherte, um das Vertrauen der USA und der alten Bundesrepublik zu bekommen. So erscheint auch mein Gespräch, das ich am 1. November 1989 in Moskau mit ihm hatte, in einem neuen Licht. Ich fragte ihn: „Michail Sergejewitsch, welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus ein? Im Westen gibt es Spekulationen, daß im Europäischen Haus für die DDR kein Platz mehr ist.“

Gorbatschow machte auf mich den Eindruck, als habe er meine Frage nicht verstanden. Ich ergänzte daher: „Die DDR entstand nach dem Zweiten Weltkrieg und im Ergebnis des kalten Krieges. Sie ist also auch ein Kind der Sowjetunion. Es ist für mich wichtig zu wissen, ob die Sowjetunion zu ihrer Vaterschaft steht.“

„Wo denkst du hin?“ fragte er und informierte mich, daß seine Mitarbeiter kürzlich mit Brzezinski gesprochen hätten. Sie hätten ihn gefragt, „ob sich die USA eine Wiedervereinigung Deutschlands vorstellen könnten“. Brzezinski habe geantwortet, „für ihn wäre das der Zusammenbruch“. Als ahnte Gorbatschow mein Mißtrauen, sagte er: „In meinen jüngsten Gesprächen mit Thatcher, Mitterrand, aber auch mit Jaruzelski und Andreotti ist klargeworden, daß sie von den Realitäten der Nachkriegszeit, einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten, ausgehen. Die Fragestellung nach der Einheit Deutschlands wird von allen als äußerst explosiv betrachtet. Sie wollen auch nicht, daß der Warschauer Vertrag und die NATO aufgelöst werden. Sie sind für ein Verbleiben Polens und Ungarns im Warschauer Vertrag. Das Gleichgewicht in Europa darf nicht gestört werden, weil niemand weiß, welche Folgen das hat.“

Das waren klare Worte, die er noch einmal bekräftigte, als er zusammenfaßte: „Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hat sich die Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Anti-Hitler-Koalition geeinigt. Genosse Krenz, übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros.“

Das, liebe Anwesende, erklärte mir der ranghöchste sowjetische Politiker noch am 1. November 1989!

Ich konnte mir damals nicht vorstellen, daß die Führung der Sowjetunion hinter unserem Rücken die DDR zur Disposition stellt. Liest man heute allerdings, was sein Mitarbeiter Anatoli Tschernjajew nur wenige Tage später seinem Tagebuch anvertraut haben will, dann wird die Heuchelei deutlich, mit der die DDR behandelt wurde: „Eine ganze Epoche des sozialistischen Systems“ so heißt es dort, „ist zu Ende gegangen … Das ist das Ende von Jalta … Seht, was Gorbatschow gemacht hat. In der Tat, er hat sich als groß erwiesen …“

Noch am 24. November 1989 schickte mir der sowjetische Präsident aber eine Information über die Vorbereitung seines Treffens mit Präsident Bush auf Malta. Darin versicherte er: „Die DDR war und bleibt unser strategischer Verbündeter.“ Was ich damals nicht wußte, was aber inzwischen durch den außenpolitischen Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Herrn Horst Teltschik, dokumentiert ist: Drei Tage vorher übermittelte ein Vertrauter Gorbatschows an Bundeskanzler Kohl eine „sieben Seiten umfassende aktuelle Moskauer Erwägung für ein vereintes Deutschland“. Diese Doppelzüngigkeit konnte zwar mein Verhältnis zur Sowjetunion nicht erschüttern, hat aber meine Meinung über Gorbatschow mitgeprägt. Die Tragik besteht darin, daß seine Politik einherging mit der Zerstörung einer Weltmacht, die trotz aller Unvollkommenheiten eine Alternative zum Kapitalismus war. Einer Weltmacht, die wesentlich dazu beigetragen hat, daß Europa von 1945 bis 1990 die längste Friedensperiode seiner neuesten Geschichte erlebte. Einer Weltmacht, ohne deren Beitrag zur Zerschlagung des deutschen Faschismus die Menschheit möglicherweise in die Barbarei zurückgefallen wäre.

Diese welthistorischen Leistungen dürfen trotz notwendiger Kritik am Vergangenen niemals vergessen werden. Hitler konnte im heißen Krieg die Sowjetunion nicht zerschlagen. Das geschah erst 45 Jahre später infolge des kalten Krieges, den beide gesellschaftlichen Weltsysteme gegeneinander geführt haben.

Die Welt von heute ist weder gerechter noch sicherer geworden. 1991 kam nicht, wie viele Menschen gehofft hatten, ein besserer Sozialismus, sondern die Rekapitali­sierung Osteuropas. Auch Deutschland ist nach 1990 nicht friedlicher, nicht sozialer, nicht gerechter geworden. Es ist staatsrechtlich zwar vereint, aber sozial, ökonomisch und auch mental weiter gespalten. Die Gegensätze innerhalb des Landes verlaufen zwischen oben und unten, zwischen arm und reich.

Das Volkseigentum der DDR wurde liquidiert. Fünf Prozent davon kamen in Privateigentum Ostdeutscher, 85 Prozent gingen in westdeutschen und zehn Prozent in internationalen Besitz über. Im Osten gibt es eine höhere Arbeitslosigkeit als im Westen, die Löhne und Renten sind hier auch noch niedriger. Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen“ ist nicht verwirklicht. Über 100 000 Wissenschaftler der DDR wurden quasi über Nacht zu Rentnern, Frührentnern oder Arbeitslosen. Gegen Amtsträger der DDR wurden Zehntausende Strafverfahren eingeleitet, mit über 1000 Verurteilungen, einschließlich hoher Freiheitsstrafen.

Obwohl Ostdeutschland ca. 20 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik stellt, sind nur ca. 5 Prozent der Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik, Justiz, Armee, Medien, Kultur und Vorständen von Unternehmen. Daß der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin aus dem Osten kommen, hängt nicht mit deren DDR-Biographien zusammen. Vielmehr wurden sie gewählt, nachdem sich westdeutsche Kandidaten für diese Funktionen politisch-moralisch verbraucht hatten.

Die soziale Spaltung in Deutschland zieht die politische nach sich. Die aufgestaute Unzufriedenheit von Bürgern mit der aktuellen Politik der Merkel-Regierung, ihre Enttäuschungen über die etablierten Parteien, ihre Verbitterung über nicht eingehaltene Versprechen haben dazu beigetragen, daß sich in Deutschland innerhalb kurzer Zeit eine rechts von den Regierungsparteien CDU/CSU ausgerichtete Partei etablieren konnte. Diese Partei steht für Ausländerfeindlichkeit. Sie nennt sich „Alternative für Deutschland“. Der Name ist irreführend, weil ihr reaktionäres und nationalistisches Programm für Deutschland keine Alternative ist. Ich unterscheide zwischen den geistigen Brandstiftern einerseits und jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – diese wählen. Die etablierten Parteien werden begreifen müssen, daß weder Wählerbeschimpfungen noch das Nachplappern rechter Parolen verlorenes Vertrauen zurückbringen, sondern nur die Hinwendung zu den tatsächlichen Problemen des Lebens.

Vor nunmehr 99 Jahren begann die Oktoberrevolution, die die Welt erschütterte und veränderte. Auch wenn es Historiker und Politiker gibt, die sie inzwischen als „Staatsstreich“, als „Putsch“ oder „Aufruhr“ herabwürdigen, ist sie nach meiner Überzeugung jene Revolution, die nach der Französischen von 1789 von der Geschichte zu Recht das Attribut „Große“ erhielt.

Ich stelle mir da schon die Frage: Was wäre wohl aus Europa und der Welt geworden, wenn die Sowjetunion dem deutschen Faschismus nicht den entscheidenden Schlag versetzt hätte? Wie hätten sich die Kolonialmächte gegenüber ihren Kolonien verhalten? Der Zerfall des Kolonialsystems ohne die Wirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ist nicht vorstellbar. Ohne den Sozialismus hätte es möglicherweise nicht nur einen kalten, sondern einen neuen, dritten heißen Weltkrieg gegeben.

Die Geschichte ist kein gradliniger Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt. Es gibt auch Epochen des Rückschritts und der Stagnation. Die Entwicklung der Produktivkräfte mit allen ihren Auswirkungen geht trotzdem voran. Damit werden früher oder später neue und sicher aussichtsreichere Versuche zustande kommen, die Gesellschaft grundlegend zu ändern. Ich bin da ein Optimist.

In diesem Zusammenhang erinnere ich an ein Wort des von den deutschen Faschisten ermordeten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands, Ernst Thälmann. Er schrieb angesichts des revolutionären Aufschwungs in China im April 1927: „Die Augen der ganzen Menschheit sind auf China gerichtet, wo das älteste und größte Kulturvolk der Erde die imperialistischen Fesseln sprengt, in die es ein Jahrhundert lang geschlagen war.“

Wieder schaut die Welt auf China. Wer wirklich Sozialismus will, kommt an den Erfahrungen Ihres Volkes nicht vorbei. Mir scheint besonders wichtig, daß es ein Sozialismus mit nationaler Prägung ist, der nicht – wie der untergegangene – ein Modell für alle Länder sein will. Ein Sozialismus als Ziel, als ein Jahrhundertprojekt, das eine sehr langfristige Entwicklung anvisiert. Ein Sozialismus, der aktiv an der Weltwirtschaft und damit an der internationalen Arbeitsteilung teilnimmt und so zu raschen Fortschritten in der Produktion und im wissenschaftlich-technischen Fortschritt gelangt, was dem Wohl des Volkes zugute kommt. Die ökonomische Stärke und der Einfluß der VR China auf die Weltwirtschaft sind bereits so stark, daß sie auf andere Länder ausstrahlen.

Am 1. Oktober 1989 hatte ich Gelegenheit, in einer persönlichen Begegnung mit Deng Xiao Ping Gedanken über Reformen im Sozialismus auszutauschen. Auch daraus ist meine Überzeugung gewachsen: Wenn die sozialistische Staatengemeinschaft in Europa in den achtziger Jahren zusammen mit China den Weg der Reformen gegangen wäre, stünde der Weltsozialismus heute stärker da. Der eingeschlagene Weg der KP Chinas wird neue Probleme und andere Schwierigkeiten hervorbringen als der untergegangene Sozialismus. Der weitere Erfolg wird aber wesentlich von der aktiven Rolle der Kommunisten und der Qualität ihrer ideologischen Arbeit abhängen, vor allem vom Vertrauensverhältnis der Bürger zu ihrem Staat.

Grafik: Herluf Bidstrup

 

Egon Krenz hielt seinen Diskussionsbeitrag „Die Niederlage der DDR – Teil des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus in Europa“ auf einer wissenschaftlichen Konferenz „Der Marxismus im 21. Jahrhundert“ in Peking im Rahmen des Themas „Der Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Wieder­belebung des Sozialismus“. Den ersten Teil seines Beitrags haben wir im Januar-RotFuchs veröffentlicht.