RotFuchs 222 – Juli 2016

Zum 2. Todestag Manfred Wekwerths am 16. Juli

Ein Großer des Theaters

Prof. Dr. Heinrich Fink

Manfred Wekwerth

Das rastlos-schöpferisch-freundliche, engagierte Leben von Manfred Wekwerth ist vollendet.

Er hat die Mühe nicht gescheut, von allem, was er gedacht, gesagt, analysiert und gehofft hat, „mit Genuß“ aufzuschreiben. Und noch 2014 hat er sich Gesprächen gewidmet, leidenschaftlich politische Konstellationen reflektiert und sich eingemischt. Jede und jeder ist daran auf seine Weise als Zuhörer, Mitstreiter, Leser und Mitdenkende beteiligt. Aber jetzt geht es darum, seine Stimme nicht verstummen zu lassen! Wissen wir doch nur zu gut, wie viele auch ihn nicht mehr hören wollen, weil sie längst dabei sind, die gewünschten Legenden von der „Befreiung zur Markt­wirtschaft“ verfertigen zu helfen.

Als Manfred in seiner Heimatstadt Köthen mit zwanzig Klassenkameraden noch im April 1945 zum Volkssturm rekrutiert wurde und fünf seiner Mitschüler in sinnloser Schießerei starben, da hat er begriffen, daß dieser Krieg verlorengehen muß, wenn ­es eine lebenswerte Zukunft geben soll! Aus den absurden letzten Kampfhandlungen flüchtete er zu seiner Mutter nach Hause und beschloß ein lebenslanges NEIN zum Krieg. Später begegnete er Pfarrer Karl Hüllweck, der in Köthen wenig daran interessiert war, die Prunksarkophage der anhaltinischen Fürsten in der Stadtkirchengruft zu pflegen, sondern als Bonhoeffer-Freund Antikriegs-Theaterstücke verfaßte und sie mit Jugendlichen in Kirchen aufführte. Es war nicht nur Religion, was Manfred inter­essierte, vielmehr faszinierte ihn die ihm bis dahin unbekannte Bücherwelt im Hause Hüllweck.

Weil Hüllweck überzeugt war, daß sich auch Nazi-Leben umlernen läßt, gründete er Lese- und Gesprächskreise und eine Theatergruppe. Zum Kummer seiner lebensklugen Mutter hatte Manfred die Schule auch nach Kriegsende nur widerwillig besucht. Er erlebte, daß der Wahn, „deutsche Herrenrasse“ zu sein, immer noch auch in Lehrerköpfen steckte. Und zwölf Jahre praktizierter Haß auf Juden und Russen waren nicht leicht zu überwinden ...

Er fand, daß auch in der Schule Menschen wieder Amt und Würden erhielten, die wahrlich ohne Würde aus alten Ämtern gekommen waren, so daß die, die jetzt die braune Vergangenheit zu verurteilen hatten, zu oft dieselben waren, die sie mitverschuldet hatten.

Aus Mangel an beruflicher Alternative wurde Manfred Neulehrer für Mathematik und Physik. Das freute besonders die alleinstehende Mutter, weil sie ihr Leben lang mühsam jeden Groschen zusammenhalten mußte. Als dann Lehrerkollegen ihn mißgünstig an einer Klasse mit 49 Rabauken scheitern lassen wollten, gelang es Manfred, diese Unzugänglichen durch ge­meinsames Theaterspielen zuerst zu verblüffen, zum Nachdenken zu bringen und einige sogar zu begeistern: „Köthener Dramatur­gie“, „Umerziehung des Men­schengeschlechts“ im Anhaltinischen!?

Ob diese Rabauken Manfred zum Aha-Erlebnis seines Lebens verholfen haben? Fortan sparte er jedenfalls weder Anmut noch Mühe, weder Leidenschaft noch Verstand, Spieler und Zuschauer in Kirchen und Kneipen zum Nachdenken zu verlocken ...

Und dann gab ihm jemand auf dünnem Durchschlagpapier ei­nen Theatertext von Brecht: „Die Gewehre der Frau Carrar“. In der Nazischule hatte er gelernt, daß die deutsche „Legion Condor“ aus Helden bestand, die Franco-Spanien vor den internationalen Brigaden der Kommunisten retteten ... Beim Inszenieren des Brecht-Textes erschloß sich ihm eine völlig neue politische Sicht ... Selbstbewußt machte er das BE im fernen Berlin auf die Aufführung in Köthen aufmerksam. Und jemand war kühn genug, auf der Ankündigung zu prophezeien: „Der Autor, Herr Brecht, ist anwesend.“ Tatsächlich holte dann Helene Weigel in kurioser Folge von Zufällen die Theatergruppe in BE-Bussen nach Berlin. Und Brecht sagte nach der ihn beeindruckenden Aufführung der jungen Leute, daß Manfred noch viel lernen müsse, und fragte, ob er das im BE machen wolle.

Eine weltbewegende Theaterbiographie begann. Diese Begebenheiten wollte ich in Erinnerung rufen, weil es 1951 „grünes Licht“ gab für eine spannungsreiche schöpferische Liaison im Hause Brecht, als beglückend harte Lernjahre in herausfordernden Zerreißproben in einem Kollektiv, das auch für die Bühnen der Welt jährlich neue Maßstäbe zu setzen vermochte. In seiner Biographie hat er den 15. März 1951, die Aufführung seiner Theatergruppe aus Köthen im BE, wie einen zweiten Geburtstag be­schrieben. Manfreds erste Inszenierung fand dann schon 1953 in Wien statt.

Manfred Wekwerth hat für uns wie „von langer Hand“, nämlich bereits mit dem Titel seiner im Jahr 2000 veröffentlichten Autobiographie „Erinnern ist Leben“ „Regie geführt“. So zählt er unseren Abschied von ihm noch zu seinem und unserem Leben! Seine Lebenserinnerungen skandalisiert er nicht. Er richtet die verbale Beleuchtung immer zuerst auf die Zusammenhänge. Der Regisseur ist bei seinem Leisten ge­blieben. Weil die Zeiten damals dramatisch waren und es heute erst recht sind, ist der Bericht von Krach, Krisen und liebendem Einverständnis eine „dramatische Autobiographie“. Dieses Buch ist auch seiner Frau Reno zu verdanken. Der größte Teil handelt von der gemeinsamen Zeit, aber gerade Erinnern ist unterschiedlich wie das Gelebte selbst. Darum ist das Buch auch ein Buch von einem bewundernswert bestandenen gemeinsamen Leben.

Brechts überraschender Tod im August 1956 hatte die schöpferische BE-Innenwelt zutiefst erschüttert. Schmerz, Trauer, Animositäten, Rivalitäten blieben vor der prä­senten Autorität des Meisters zunächst noch eingehegt. Helene Weigel vermochte die starke Frau zu bleiben. Das hat Manfred in „Neues vom alten Brecht“ nachlesbar ge­macht. Es heißt, daß am offenen Grabe von Brecht sein Gedicht „An die Nachgebore­nen“ gelesen werden sollte, was dann leider unterblieb. 25 Jahre nach Brechts Tod hat Erich Fried über dieses Gedicht nachgedacht. Ich schreibe es hier speziell für Manfred und Reno:

Zur Zeit der Nachgeborenen
„Dabei wissen wir doch“
hast du gesagt
„Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.“

Das hast du gesagt zu den Nachgeborenen.
Nun schweigst du. Und der Zorn über das Unrecht
macht die Stimmen einiger immer noch heiser.
Die meisten aber sind heute nicht einmal zornig
sondern haben sich gewöhnt an das alte und neue Unrecht
hier, da und dort, und auch an das strenge Recht
das die Ungerechten einander sprechen

Und die, denen der Haß gegen die Niedrigkeit
die Züge verzerrt hat, sitzen dort und da hinter Mauern
daß keiner sie sehen kann, denn die Niedrigkeit
hat in vielerlei Ländern als Obrigkeit Hoheitsrechte
und die Unteren ducken sich oder sind so enttäuscht
von fehlgeschlagenen Versuchen, sich zu befreien
daß sie vielleicht keine Kraft mehr haben zu hassen
Und manche halten das für Freundlichkeit

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“
hast du gesagt.
Die Zeiten sind anders geworden, aber im ganzen
sind sie nicht heller geworden seit deinen Versen
und die Gefahr ist größer als damals
denn nur die Waffen
und nicht die von ihnen geführten Menschen sind stärker geworden
und es stimmt auch noch, was du von ihnen gesagt hast:
„Nachzudenken, woher sie kommen und
Wohin sie gehen, sind sie
An den schönen Abenden
Zu erschöpft.“

Und weil das alles noch stimmt, können dich heute
die Nachgeborenen leicht verstehen, ja, besser
als dir lieb wäre, obwohl doch gerade du
gerne verständlich warst, aber ich glaube
du hast vielleicht bis zuletzt gehofft, daß sich vieles
verändern wird, so daß der Mensch einer neuen Zeit
dich nicht verstehen kann, ohne die alte Zeit zu studieren

Aber weil man dich noch versteht
können einige von dir lernen
wie man die Hoffnung am Leben erhält und gleich dir
mit List und Geduld und Empörung weiter den Boden bereitet
für Freundlichkeit
daß der Mensch dem Menschen ein Helfer sei

Laßt uns lernen, wie man Hoffnung am Leben erhält, und laßt uns gegenseitig behilflich sein beim Herausfinden, wie mit List, Geduld, aber auch Empörung der Boden für Freundlichkeit zu bereiten ist, „daß der Mensch dem Menschen ein Helfer sei“ …

Übrigens: 1970 promovierte Manfred mit summa cum laude zum Dr. phil. bei Prof. Dr. Rita Schober, der Dekanin der philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Wir wissen, daß die Professorin diese Zensur sehr selten gab. Sie lobte die Arbeit außerordentlich, weil für künftige Theater wegweisend …

Aber: Wann hat er das alles geschafft? Woher nahm er die Zeit, vor allem die Kraft? Seine Frau Renate hat ihm jederzeit in allen Lebensbereichen zur Seite gestanden und seine Kraft vermehrt. Manfred meinte von ihrem gemeinsamen Leben, daß es eine Symbiose sei, zu der aber auch die beiden Mütter als Kraftquell gehörten, die großmütterlichen Schutzengel der Tochter, die aus Magdeburg und Köthen zu Manfred und Reno nach Berlin zogen. So konnten die beiden auch immer beruhigt sein, wenn im Ausland inszeniert und gespielt wurde, daß Christine behütet und umsorgt war. Denn das „Berliner Ensemble“ war zu vielen Gastspielen eingeladen: zwischen 1977 und 1990 nach Paris, Moskau, Venedig, Rom, Bari, Florenz, Mailand, Caracas, Edinburgh, Wien, Warschau, Köln, Toronto.

Ein Gastspiel hatte für Manfred besondere Bedeutung: Im Mai 1989 war das BE nach Israel eingeladen: mit „Galileo Galilei“, „Baal“ und einem Brecht-Abend war es das erste Gastspiel eines DDR-Theaters in Israel. Bedenken von DDR-Politikern, die eine Kränkung der Araber fürchteten, vermochte die Leitung des BE zu zerstreuen. Groß war die Resonanz beim Publikum und in der Presse. Sympathiekundgebungen gab es sogar bei der Bevölkerung auf der Straße. Besonders bewegend war, daß Manfred gebeten wurde, in Yad Vashem, in der Gedenkhalle an der ewigen Flamme zur Erinnerung an die Toten der Shoa eine kurze Rede zu halten. Das war bisher nur Staatsoberhäuptern vorbehalten. Manfred sprach von der Arbeit des BE und beschrieb die antifaschistische Tradition, der es sich seit Brecht verpflichtet fühlt – und las das Brecht-Gedicht „An die Kämpfer in den Konzentrationslagern“. Das fand in der linken Presse große Resonanz. Die tapfere kleine Friedensbewegung in Israel fühlte sich gestärkt. Immerhin war Manfred Wekwerth Mitglied des Zentralkomitees der SED. Für diesen Auftritt hatte er die Partei nicht um Erlaubnis gebeten. Er handelte im Sinne Brechts!

Nachdem die DDR die Mauer, Tor und Tür dem Westen geöffnet hatte, beschloß das Abgeordnetenhaus, jede wissenschaftliche und künstlerische Einrichtung im Osten auf ihren politischen und ökonomischen Wert zu prüfen. Die Humboldt-Universität und das Berliner Ensemble gerieten dabei besonders in den Blick der Abwickler, denn beide Einrichtungen hatten Weltruf. Doch die Senatoren, die über das Weiterbestehen zu entscheiden hatten, waren der Meinung, das BE sei nur noch ein „politisches Brecht-Museum“ und ebenso wie die Humboldt-Universität den Ansprüchen der neuen freiheitlichen Marktwirtschaftsgesellschaft nicht gewachsen. Wekwerth wurde als politische Altlast verurteilt. Der Senator für Kultur wollte den Intendantenwechsel. Dazu wurde eine Medienkampagne gegen Manfred ausgelöst, unwürdig und dumm, nicht des Zitierens wert. Fünfzehn Schauspielern und dem Intendanten wurde ohne Begründung gekündigt, obwohl der Intendanten-Vertrag zum Jahresende ohnehin ausgelaufen wäre … Wir erlebten finstere Zeiten!

Obwohl in brüskierender Weise abgewickelt, resignierten Reno und Manfred nicht. Sie arbeiteten weiter. Manfred inszenierte im Meininger Theater, im Theater des Ostens, im Neuen Theater in Halle bei Peter Sodann Brechts „Puntila“, Shakespeares „Richard III.“ und Marlowes „Dr. Faustus“. Und mit Hoffmannstals „Jedermann“, den Manfred im Dom zu Halle inszenierte, schließt sich der Kreis zu seinen ersten Inszenierungen in Köthens Kirche!

Durch den Bundestagsabgeordneten Diether Dehm, dessen Rock-Oper sie in Erfurt auf die Bühne brachten, lernten Reno und Manfred die Thüringer Rockband EMMA kennen. Mit der hat er Brecht-Lieder „ver-rock-t“ für ein junges Publikum, das vorher wohl niemals etwas mit Brecht zu tun hatte. Mit dem Komponisten Syman, dem Schauspieler Hendrik Duryn, mit Reno und dem Percussionisten Thorsten Adrian setzten sie Brechts „Versifizierung des Kommunistischen Manifests“ in Szene. Und das wurde geradezu eine Sensation!

Immer wieder wurde Manfred eingeladen, aus seinen Büchern zu lesen, der Autobiographie, aus „Mut zum Genuß“ und dem Gesprächsbuch „Neues vom alten Brecht“. Er referierte auf Konferenzen, empfing auch zu Hause Kollegen, die ihn konsultierten. Renate und Manfred wurden nach Istanbul eingeladen, nach Havanna zur Buchmesse und nach Athen zu einem großen Brecht-Kongreß. Dem aber konnte Manfred nur noch ein Filminterview von Berlin aus geben. Manfreds letzte initiierte, titulierte und mitgestaltete Veranstaltung galt dem würdigen Gedenken an seinen Freund, den Theatermann Prof. Werner Mittenzwei – am 10. April 2014.

All seine Lebenszeichen hat Manfred seiner Frau Reno anvertraut. In der Zeit, als ihn die Körperkräfte verließen und er das nicht mit Gleichmut und Geduld annehmen konnte, hat ihm seine liebe Reno – wenngleich auch selbst oft mit letzter Kraft – eine „freundliche Welt“ bereitet. Dafür gilt ihr Dank.

Manfred kam ins Familiengrab, zu den Müttern …

Die rund 65 Autoren des elften Bandes der Reihe „Spuren der Wahrheit“, dem wir die Trauerrede Heinrich Finks leicht gekürzt entnehmen, setzen sich auf unterschiedliche Weise direkt oder indirekt mit dem Begriff „Heimat DDR“ auseinander. Da werden Werte auf die Waagschale der Geschichte gelegt, die ihrer Heimat Gewicht gaben.

„Wir wollten eine neue Gesellschaft entwickeln, zeigen, daß ein Leben ohne Arbeitslo­sigkeit, ohne Angst vor dem Morgen und in Frieden mit allen Nachbarn möglich ist. Ich fühlte mich voll als Bürger dieses Staates und vertrat seine Ziele, auch wenn mir bewußt war, daß das unter den komplizierten inneren und äußeren Bedingungen in dieser Zeit des kalten Krieges nicht von heute auf morgen zu erreichen war. Es war eben mein Land.“

Hier wird nichts sehnsuchtsvoll oder gar schnulzig verklärt; hier werden durchaus auch kritische Worte zu Land und Leuten gefunden, aber – wie man einem guten Freund die Wahrheit sagt – unterstützend und helfend.        

„Was bedeutet nun Heimat für mich? Sie ist dort, wo man unter Freunden und Genossen lebt in einer friedlichen Welt, in der die Menschen nicht um ihre Existenz kämpfen müssen, in der es keine extremen Unterschiede des Einkommens gibt wie in den kapitalistischen Ländern, in dem Soldaten die Errungenschaften des Sozialismus verteidigen und nicht auf Raubzüge in fremde Länder geschickt werden. Die DDR war ein solches Land.“

„Die Erinnerung an jene Zeit ist ein Stück Heimat für mich. Das bedeutet aber nicht Nostalgie, sondern Auftrag, Verpflichtung, für die sozialistischen Werte zu kämpfen, die im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden zum großen Teil schon ver­wirklicht waren. Heimat – das bedeutet: Solidarität, Internationalismus, Freundschaft mit Genossen, Leben in einem Land ohne Krieg, ohne Angst vor Armut, vor Arbeitslosig­keit, vor Not und Einsamkeit im Alter.“

Horst Jäkel (Hrsg.):

Heimat DDR

GNN-Verlag, Schkeuditz 2015
374 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-89819-416-7

19,00 €