RotFuchs 216 – Januar 2016

Als gestern Besiegte müssen wir heute an das Morgen denken

Ein neuer Anlauf beginnt nicht bei Null

Andreas Bendel

Wir leben in einer ungerecht organisierten Welt: Die einen hungern fast täglich, dürfen nicht arbeiten, sind ohne eigenes Verschulden ungebildet und wissen nicht, wie sie das Existenzminimum ihrer Familien sichern sollen, von der eigenen Zukunft ganz zu schweigen. Die anderen – nur wenige an der Erdbevölkerung gemessen – leben auf der Sonnenseite. Sie schwelgen in Reichtum, den sie nicht erarbeitet haben und auch niemals verbrauchen können. Die Masse der Menschen in den entwickelten Industriestaaten hat ihr Auskommen, kann sich manches leisten, muß dafür aber auch sehr hart schuften. Die Ausbeutung am Arbeitsplatz ist schärfer denn je, wird aber von den meisten kaum zur Kenntnis genommen. Selbst bestimmte Parteien und Organisationen, die sich zur Linken rechnen, erblicken in der Offenlegung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse kein Thema mehr.

Der DDR-Jugend fehlte es
nicht an Selbstbewußtsein.

Der Kapitalismus ist technologisch so stark wie nie, was sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern dürfte, während sich die gesellschaftlichen Konflikte verschärfen. Am derzeitigen Wirtschaftssystem kann unser Planet zugrunde gehen und wir mit ihm.

Seit dem Verlassen der Urgesellschaft kämpfen Klassen, wie man sich durch ihre Stellung zu den Produktionsmitteln voneinander unterscheidende Menschengruppen bezeichnet, gegeneinander, verbünden sich gegen Dritte, trennen sich wieder und gehen neue Koalitionen ein. Viele merken nicht einmal, was sich in ihrem Umfeld verändert.

In einem Teil der Welt gab es zwischen 1917 und 1990 große Anstrengungen, das Leben aller grundlegend zu verbessern. Manches gelang so gut, daß es noch lange – wahrscheinlich für immer – im Gedächtnis der Menschheit eingegraben sein wird. Anderes war nicht richtig durchdacht oder entsprang historisch erklärbarer Unerfahrenheit, während wieder anderes gänzlich falsch, manches sogar schändlich war. Aber obwohl das Fortschrittliche in der Summe eindeutig überwog, war es nicht möglich, unserer neuen Gesellschaft Bestand zu verleihen. Es siegte wieder das Alte. Doch linke gesellschaftliche Bewegungen müssen fortan nicht mehr bei Null anfangen. Die Analyse unserer Niederlage ist noch lange nicht abgeschlossen. Je mehr sie zeitlich zurückliegt, um so deutlicher kann man, wenn man will, ihre eigentlichen Ursachen erkennen. So, wie wir sie analysieren, haben wir auch die Pflicht, in die Zukunft zu denken.

Welche Voraussetzungen müßten aus meiner Sicht in einer gerechten Gesellschaft erfüllt sein?

  1. Grund und Boden sowie Bodenschätze gehören allen. Privateigentum an ihnen gibt es nicht, wohl aber zeitlich begrenzte Pachtmöglichkeiten. Das gilt auch für landwirtschaftliche Nutzflächen.
  2. Alle lebensnotwendigen und für den Bestand der Gesellschaft unentbehrlichen Bereiche sind von jeglicher Privatisierung ausgeschlossen. Sie werden über den Staat genutzt und durch ihn verwaltet, dürfen keinen Profit abwerfen, müssen aber die erweiterte Reproduktion garantieren. Das betrifft die gesamte Infrastruktur, aber auch Banken, Post und Fernmeldewesen, Grundsicherung der Existenz (Rente, Haftpflicht, Unfall) und Internet.
  3. Es gibt eine staatliche Gesundheits- und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen müssen und die eine ausreichende Versorgung garantiert. Zuzahlungen jeglicher Art werden nicht erhoben. Private Zusatzleistungen gegen Bezahlung sind möglich.
  4. In die Staatliche Rentenversicherung zahlt jeder Bürger ein. Die Grundversorgung ab Eintritt in das Rentenalter wird garantiert. Sie kann durch freiwillige Zusatzbeiträge aufgestockt werden.
  5. Bildung ist gebührenfrei. Es wird ein geringes, aber auskömmliches Stipendium für Studenten und Schüler ab dem 17. Lebensjahr gewährt. Die Stipendien sind abhängig von Regelzeiten und Leistungskriterien. Die fachliche Ausbildung ist am gesellschaftlichen Bedarf zu orientieren.
  6. Für die Sicherung der Löhne und Gehälter sowie die Arbeitsbedingungen sind die Gewerkschaften zuständig. Deren Tarifabschlüsse gelten für die Branche als verbindlich.
  7. Die Arbeiter und Angestellten der Betriebe und Einrichtungen wählen beratende Gremien. Diese müssen zu grundsätzlichen Fragen der Führung des Betriebes wie Investitionen, Produktstrategie und ähnlichem gehört werden. Mit ihren Empfehlungen zielen sie zugleich auch auf die Stärkung des Eigentümerbewußtseins jedes einzelnen Betriebsangehörigen.
  8. Berufsbeamtentum gibt es nicht. Hoheitliche Rechte werden mittels Verpflichtung bestätigt.
  9. Privateigentum an Produktionsmitteln gehört zu den gesellschaftlichen Grundlagen des Staates. Ausgenommen sind alle unter Punkt 2 genannten Bereiche. Der Betriebsgewinn wird in einer Höhe limitiert, daß der Anreiz für unternehmerische Aktivitäten erhalten bleibt.
  10. Der Zusammenschluß einzelner Produzenten zu Genossenschaften entspricht dem Charakter der Gesellschaft. Die Überführung von privatem Produktionsvermögen in genossenschaftliches Eigentum ist erwünscht und wird gefördert.
  11. Die Gewinne aus staatlichem Eigentum sowie die Abschöpfung der über das Limit hinausgehenden privaten Erlöse werden genutzt, um einer Vollbeschäftigung der Bevölkerung nahe zu kommen und die Jahresarbeitszeit zu verringern.
  12. Wer keine Arbeit hat, erhält einen Betrag, der unter dem Mindestlohn liegt. Er kann zu gemeinnützigen Leistungen für die ihn finanzierende Gesellschaft herangezogen werden.

Eine Gesellschaft, die auf diesen Grundsätzen beruht, ist noch nicht sozialistisch. Doch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wird zumindest eingeschränkt. Es gilt das Prinzip: Gemeinwohl geht vor Eigenwohl!

Leider sehe ich derzeit hierzulande keine hinreichend einflußreiche politische Kraft, die den Prozeß der gesellschaftlichen Umwälzung organisieren und führen könnte. Darin besteht das Dilemma. Mit einer „Transformation“ oder einem „Hineinwachsen“ in eine gerechte Gesellschaft geht es erwiesenermaßen nicht. Die Erfahrungen aus den Klassenkämpfen der vergangenen Jahrhunderte beweisen, daß es ohne revolutionäre Umwälzung der Macht- und Eigentumsverhältnisse nicht funktionieren kann.