RotFuchs 209 – Juni 2015

Vor 100 Jahren wurde Portugals Arbeiterführer
António Dias Lourenço geboren

Ein proletarischer Held zum Anfassen

Klaus Steiniger

Wohl kaum jemand, dem ich in meinem langen Reporterleben auf vier Kontinenten begegnet bin, war trotz seines außergewöhnlichen Bekanntheitsgrades so schlicht und volksverbunden wie António Dias Lourenço. Er galt als einer der herausragendsten Akteure der Portugiesischen Revolution, die mit dem Sturz der 48 Jahre währenden faschistischen Diktatur Salazars und Caetanos am 25. April 1974 eingeleitet worden war. Nahezu fünf Jahre Lissabonner Korrespondent des damals sozialistischen ND, erlebte ich Vormarsch und Rückzug, aber auch die schmerzliche Niederlage des bisher weitreichendsten antikapitalistischen Vorstoßes im Westen Europas, nicht nur als Zaungast. Als Chronist des Geschehens begegnete ich António, wie ihn alle nannten, bereits Stunden nach meiner Ankunft in Lissabon Anfang Mai 1974 am provisorischen Sitz des ZK der PCP.

Erst am 26. April 1974 war der 1915 geborene und im August 2010 verstorbene große portugiesische Arbeiterführer nach zwölfjähriger „zweiter Etappe‘“ seiner insgesamt 17 Jahre währenden Haft wieder auf freien Fuß gelangt. Nun bereitete sich der am grausamsten gefolterte politische Gefangene der Faschisten auf eine wichtige Tätigkeit vor: Mitglied der Politischen Kommission des ZK der Portugiesischen KP, der er am Ende seines Lebens fast 80 Jahre angehört hatte, sollte António die politische Leitung des schon am 17. Mai legal erscheinenden Parteiorgans „Avante!“ übernehmen. Fortan auf lange Zeit dessen Direktor, hatte er die geheime Herstellung und den illegalen Vertrieb des Blattes, das die faschistische Terrorherrschaft im Untergrund überdauert hatte, schon früher wiederholt geleitet.

Antónios Biographie verblüfft: Mit 13 mußte der Arbeiterjunge in die Fabrik. Er gehörte also zu jenen, die der Literat Soeiro Pe-reira Gomes als „Männer, die niemals Kinder waren“, bezeichnete. Metallarbeiter, Journalist, politischer Führer, Schriftsteller und Parlamentsabgeordneter der PCP, wurde er schon 1943 von seinen Genossen in das Zentralkomitee gewählt, dem er 53 Jahre lang angehörte.

Zum Spektakulärsten seiner politischen Karriere zählte Antónios Entweichen aus der Maximum-Sicherheitszelle der mittelalterlichen Zuchthaus-Festung Peniche, die ein besonders dramatische Ereignisse dieser Art beschreibender Bestseller-Autor unter die legendärsten Fluchten der Geschichte einreihte. Nach gelungenem Ausbruch aus seinem Verlies versuchte er sich mit aneinandergeknüpften Bettlaken vom Felskap zum Atlantik hinunterzulassen. Als das mißlang, sprang er todesmutig in die etliche Meter tiefer gelegenen Fluten. (Die hier reproduzierte Originalaufnahme mit der Einzeichnung des Fluchtweges von seiner Hand schenkte mir António mit einer herzlichen Widmung bereits am 20. Juni 1974.)

Doch er, dem auch die größten Bitternisse des Lebens – der Tod seines kleinen Sohnes António und die Einkerkerung seiner Tochter Yvone – während der eigenen Haftzeit nicht erspart blieben, vollbrachte noch eine andere Großtat: Nach der Flucht aus Peniche nun Führer der illegalen Partei, organisierte er das Entweichen des PCP-Generalsekretärs Álvaro Cunhal und zehn weiterer ZK-Mitglieder, die sich ebenfalls in der Festung befanden. Unter Begleitung eines die gefährliche Operation unterstützenden Wachpostens ließen sich die Männer den Wall hinabgleiten und verschwanden im Untergrund. Cunhal wurde sofort ins Ausland gebracht.

Viele Jahre später, unmittelbar nach dem 25. April 1974, befand sich Dias Lourenço dann unter jenen, die Genossen Álvaro bei seiner Rückkehr aus dem Exil auf dem Lissabonner Flughafen Portela willkommen hießen. Kurz darauf gab dieser die erste Pressekonferenz der gerade aus der Illegalität hervortretenden PCP in einem von Sicherheitskräften der Partei abgeschirmten Sportklub. Nur eine Handvoll Vertrauen genießender Reporter war in dem abgedunkelten Raum zugegen, erlebte Cunhal und den die Konferenz leitenden Dias Lourenço.

Später hatte ich das Glück, António bei unzähligen seiner Fahrten ins Land und über dessen Grenzen hinaus zu begleiten. Die Paarung von Größe und Bodenhaftung dieses Mannes beeindruckten mich zutiefst.

Wenn anläßlich seines 100. Geburtstags hier an den proletarischen Helden erinnert wird, dann geschieht das in der freudigen Gewißheit, daß die in der Vormarschetappe der Portugiesischen Revolution zu einer Massenpartei gewordene PCP trotz aller erlittenen Rückschläge eine der großen marxistisch-leninistischen Formationen Europas geblieben ist.