RotFuchs 213 – Oktober 2015

Der ungarische Literat und Philosoph Almos Csongár hat das Wort:

Ein Pyrrhussieg des Westens

Almos Csóngar

Natürlich mußten Janos Kádárs isolierte Reformversuche in Ungarn scheitern, bildeten doch die sozialistischen Staaten eine Gemeinschaft und waren nur gemeinsam lebensfähig. Allein ein Wichtigtuer wie Schabowski behauptete vor uns im Schriftstellerverband, die DDR würde auch ohne die UdSSR überdauern. Und er fügte hinzu: „Wir haben mit dem Dreck, den Gorbatschow täglich über uns und den Sozialismus ausschüttet, nichts zu tun.“ Er gehörte bekanntlich zu den ersten Wendehälsen, welche die DDR verrieten und sich in den Dienst des politischen Gegners begaben.

Gorbatschow hatte dem Westen zunächst ehrlich die Hand gereicht und wollte den Kalten Krieg beenden. Doch sein Chefideologe Jakowlew – häufiger Gast beim westdeutschen Fernsehen – sagte nie mehr als die folgenden Worte, wenn er zum Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den Warschauer Paktstaaten gefragt wurde: „Das ist ihre Sache. Damit haben wir nichts zu tun.“ Natürlich hat der Westen das schamlos ausgenutzt. Als sich die UdSSR in enormen Zahlungsschwierigkeiten befand, fragte Gorbatschow den sich als sein Busenfreund gebärdenden „Gelmut“, ob er ihm nicht mit drei Milliarden DM aushelfen könne. Kohl griff – im übertragenen Sinne – in die Jackentasche und legte ihm die Summe auf den Tisch.

1945 war die UdSSR ein Trümmerfeld. Das zerstörte Land mußte aus eigener Kraft wieder aufgebaut werden. Die DDR trug mit erheblichen Reparationsleistungen dazu bei. Für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR verlangte der naive Gorbatschow von Kohl 15 Milliarden DM unter dem Vorwand, man müsse für die heimkehrenden Offiziere Wohnungen bauen. Aber eine halbe Million einfacher Soldaten wurde nicht nur haufenweise arbeitslos, sondern verlor überdies auch das Obdach.

Doch noch größer ist Gorbatschows Schuld, weil er sich mit einem Handschlag begnügte und das Versprechen Kohls und Genschers, die NATO werde niemals an der Westgrenze der Sowjetunion Stellung beziehen, für bare Münze nahm.

Die größte Schuld der Deutschen in der DDR – zu denen ich mich wohl rechnen darf – bestand darin, daß sie den Sozialismus verkommen ließen. Ulbrichts erweiterter neuer ökonomischer Plan hätte den Niedergang in manchen Ländern verhindern können. Die Ungarn, die Polen, die Tschechen und Slowaken, die Bulgaren und gewiß auch die Kubaner wären dabeigewesen und hätten davon profitiert. Dadurch wäre das sozialistische Lager mit mehr Selbstbewußtsein bei den Verhandlungen von Ost und West aufgetreten. Manche Kriege wären uns vermutlich erspart geblieben, und der Terror würde wahrscheinlich nicht in diesem Ausmaß toben.

Man darf übrigens nicht vergessen, daß Teile der islamischen Welt jahrzehntelang mit dem Sozialismus sympathisierten. Nasser, Ghaddafi und Ben Bella waren Anhänger dieser Idee. Doch in Afghanistan vermochte der Sozialismus nicht zu siegen, weil die Sowjetunion unter Breschnew inzwischen zuwenig Ausstrahlungskraft besaß, um andere Länder mitzureißen.

Die historische Entwicklung erlitt einen schweren Rückschlag. Deshalb ging auch der Arabische Frühling in brutalen Religionskriegen unter und steigerte sich – nicht ohne Zutun der USA – zum alle Dimensionen sprengenden Terror des IS.

Rußland und China bleiben jene Großmächte, die uns am nächsten stehen und in der Lage sind, einen neuen Weltkrieg zu verhindern. Ich würde beide Staaten – im Sinne von Georg Lukács – als gelenkte Demokratien betrachten. Man bedenke, daß ohne die „erforderliche Lenkung“ beide Riesenmächte in Chaos und Nihilismus versinken würden. Doch vergessen wir vor allem Kuba nicht. Es ist bewundernswert, wie sich dieser kleine Staat in unmittelbarer Nachbarschaft zu den USA behaupten konnte und dem Sozialismus treu blieb.

An Washingtons Leine: US-Außenminister John Kerry erteilte den handverlesenen Anführern der ukrainischen Putschisten Petro Poroschenko, Wladimir Klitschko und Arsenij Jazenjuk am 1. Februar 2014 während der 50. Münchener „Sicherheitskonferenz“ genaue Instruktionen für ihr Losschlagen gegen Kiew und Moskau.

Erst seit dem 20. Jahrhundert gibt es einen militärischen Zusammenprall, dem die Bezeichnung „Weltkrieg“ entspricht. Nirgendwo auf unserem Planeten ist man mehr sicher. Und die bis zum Überdruß als höchste Errungenschaft des Westens gepriesene Freiheit wird Tag für Tag mehr eingeschränkt. Man regiert, wie es der „linke“ Philosoph Michel Foucault vorausgesagt hatte: durch Überwachen und Strafen. Es geht so weit, daß die NSA der Vereinigten Staaten selbst die engsten Vasallen ihres Landes bespitzelt.

Übrigens war mein Landsmann Georg Lukács der Meinung, daß der amerikanische Raubtierkapitalismus der Menschheit einen noch größeren Schaden bescheren würde als die Nazis, falls man ihn nicht daran hindere. George Soros greift als milliardenschwerer Bankier Lukács’ Ansichten auf und malt in seinem neuen Buch ein düsteres Bild von der kapitalistischen Zukunft.

Die Weltgeschichte geht weiter. Es gibt keinen Umweg um die Etappen der Großen Französischen Revolution und der russischen Oktoberrevolution. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er braucht auch Ideen, Ideale und Utopien, für die er sogar zu sterben bereit ist. Es geht um einen neuen Menschentypus, der die Welt wieder verzaubert und sich dem Leben und der Natur gegenüber andächtig verhält. Er wird als Werktätiger die soziale Frage, Brüderlichkeit und Solidarität an seine Fahne heften.

Immer mehr zeigt sich, daß der Sieg des Westens ein Pyrrhussieg gewesen ist. In dieser Erkenntnis liegt unsere Hoffnung, daß der Sozialismus im Weltmaßstab in Zukunft wieder stärker und stärker wird, so daß er beim nächsten Anlauf eine entscheidende Rolle zur Gestaltung der Menschheitszukunft spielen könnte. Die Geschichte ist außerstande, auf der Stelle zu treten. Die Welt geht ständig mit dem Neuen schwanger. Dieses Wissen, das wir verbreiten sollten, läßt uns hoffen.

Der redaktionell bearbeitete und aus Platzgründen gekürzte Beitrag Almos Csongárs ist dem neuen Buch „Also nein, diese Magyaren – Das ungarische Dilemma“ des inzwischen 95jährigen Autors entnommen, dessen Erscheinen im Verlag am Park bereits angekündigt worden ist.