RotFuchs 208 – Mai 2015

Warum der 8. Mai für mich immer der Tag der Befreiung sein wird

Ein Teller Haferflockensuppe
und seine Folgen

Dieter Pfannenberg

Niemand wird als Kommunist geboren. Aber oftmals können sich traumatische Kindheitserinnerungen prägend auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung auswirken.

Ich bin 1941 geboren und erinnere mich noch lebhaft an Fliegeralarm und das Hasten unserer Mutter mit ihren zwei Söhnen in den Luftschutzkeller der benachbarten Bank. Wir wohnten damals in der Schützenstraße von Coswig/Anhalt, die nach der DDR-Gründung in Puschkinstraße umbenannt wurde.

Es war Ende April/Anfang Mai 1945, als vor unserem Haus sowjetische Zwangsarbeiter beim Straßenbau eingesetzt wurden. Ich saß auf den Treppenstufen vor der Haustür, als sich plötzlich eine kriegsgefangene Rotarmistin völlig erschöpft neben mir niederließ. Meine Mutter reichte ihr rasch einen Teller Haferflockensuppe. Ich habe nie wieder einen Menschen so angstvoll und hastig essen sehen. Dann stellte mir meine Sitznachbarin den leeren Teller schnell auf den Schoß. In den Augen des faschistischen Blockwarts, der davon erfuhr, hatte sich meine Mutter mit ihrer humanen Geste über ein Nazi-Verbot hinweggesetzt, das jeglichen Kontakt mit Kriegsgefangenen bei strengster Strafe untersagte. So zeigte der Blockwart die Spenderin bei der SS an. Dies und das darauf Folgende weiß ich aus Erzählungen meiner Mutter.

In Coswig gab es damals eine illegale Gruppe der KPD unter Leitung Paul Bothmanns. Dessen Familie wohnte uns direkt gegenüber. Im Auftrag dieses Genossen besuchte uns in den Abendstunden jenes Tages eine Mitstreiterin, die wir nur als Frau Fahlteich kannten. Sie bedeutete meiner Mutter, schnell ein paar Sachen zusammenzupacken, um mit mir und meinem zweijährigen Bruder bis zu einem vereinbarten Punkt an der Autobahn Coswig–Dessau zu eilen und so der drohenden Erschießung durch ein SS-Kommando zu entgehen.

An diese nächtliche Flucht erinnere ich mich noch sehr genau. Wir näherten uns auf unwegsamem Gelände der Autobahn, immer vor den kreisenden Scheinwerfern der Wehrmacht in Deckung gehend. Ich zog meinen kleinen Bruder im Kinderwagen hinter mir her und folgte der Mutter, die ihr Fahrrad mit ein paar Habseligkeiten führte. Im Böschungsgraben mußten wir abermals eine Scheinwerferpause abwarten, um während dieser schnell über die Autobahn zu huschen. Auf der anderen Seite befanden wir uns auf bereits auf befreitem Gebiet. Ein sowjetischer LKW, auf dem zahlreiche Menschen, vorwiegend Frauen mit Kindern, unter einer Plane saßen, brachte uns zum Dessauer Hauptbahnhof. Dann waren wir wieder auf uns selbst gestellt.

Mein Erinnerungsvermögen hat auch einen Fliegerangriff auf den Leipziger Hauptbahnhof festgehalten. Das Glasdach zerbarst, Eisenträger stürzten herab, und überall sah man Tote. Wir saßen auf einer Decke mit dem Rücken zur Wand und eng an unsere Mutter geschmiegt.

Als das Schlimmste vorüber war, wurde ein Zug bereitgestellt, den alle, die mit heiler Haut davongekommen waren, unverzüglich stürmten. Auch wir befanden uns in der Menge. Meiner Mutter mit Kleinkind auf dem Arm gelang es, in einem Dienstabteil unterzukommen, während ich zunächst auf dem Trittbrett blieb, bis mich beherzte Männer durch ein offenes Fenster zu ihr hineinreichten.

Unser Reiseziel war Bad Klosterlausnitz, wo die Großeltern mütterlicherseits lebten. Sie gewährten uns einige Tage Unterkunft und Nahrung.

Nach dem 8. Mai 1945 zögerte meine Mutter nicht, nach Coswig zurückzukehren, wobei sie nicht wissen konnte, was uns dort erwartete.

Ihre Geste, der Kriegsgefangenen einen Teller Haferflockensuppe zu reichen, war dem sowjetischen Stadtkommandanten zu Ohren gekommen. Deshalb schrieb er an sie: „Die Ihnen vom faschistischen Bürgermeister entzogene Wohnung steht Ihnen ab sofort wieder zur Verfügung.“

Weihnachten 1946 kam auch mein Vater heim. Er hatte zum Erstaunen unverbesserlicher Zeitgenossen seine Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft in die Sowjetische Besatzungszone erwirkt.

Als reifer werdender Jugendlicher begriff ich, daß die Nachkriegsentscheidungen beider Eltern so oder so politischer Natur waren. Vor allem aber wurde mir bewußt, daß es deutsche Kommunisten gewesen sind, die meiner Mutter das Leben gerettet und uns Kinder vor einer ungewissen Zukunft bewahrt hatten.

Als die mich am meisten prägenden Jahre betrachte ich die Zeit zwischen 1956 und 1962, als ich in Wernigerode die Fachschule für Landwirtschaft besuchte. Hier erwarb ich von überzeugend parteiverbundenen Pädagogen das politische und geistige Rüstzeug, um bereits dort Kandidat und später Mitglied der SED zu werden. In meiner weiteren beruflichen Entwicklung gab es zwar einige Brüche, doch ich blieb der kommunistischen Sache treu. Auch heute steht mir – einem inzwischen 73jährigen – am 8. Mai jeden Jahres noch einmal der Graben an der Autobahn bei Coswig vor Augen.