Compañera Christa: Für junge und junggebliebene RotFüchse
Ein verlorenes Land trägt man im Herzen
Am 7. 0ktober 1949 wurde die DDR gegründet. Damals war ich, Kriegs- und Flüchtlingskind, acht Jahre alt und lebte im kleinen Dorf Wogau bei Jena in Thüringen. Die Schule bestand aus einem einzigen Raum, in dem alle acht Klassen von einem wunderbaren Lehrer unterrichtet wurden. Kurz nach der Gründung des neuen Staates bekamen wir kleinen Bürger ein zweites Haus auf dem Schulhof gebaut. Domizil für die erste bis vierte Klasse. An der Wand hing das Bild eines freundlichen Opas. Wir wußten, das war Wilhelm Pieck, unser neuer Landesvater.
Neunundvierzig Jahre alt war ich, als ich mein Vater- und Mutterland – die DDR – verlor.
Ein verlorenes Land trägt man im Herzen. Auf einer Landkarte findet man es nicht mehr. Der wahre Verlust wurde mir erst ganz allmählich bewußt. Es ist wie beim Tod von Vater oder Mutter: Erst lange danach spürt man die Endgültigkeit des Verlustes. Es tat sehr weh!
Gegen die geringere Zahl der Verteidiger des verlorenen Landes Deutsche Demokratische Republik steht ja die Mehrzahl der Verleumder und Schmäher. Die „Wohltäter“ mit den gierigen Händen haben ihr Werk getan: Enteignung des Volkseigentums, Vertreibung Hunderttausender Ostdeutscher aus ihren Häusern durch das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, Plattmachen von Klein- und Großbetrieben und damit verbundene Entlassungen von Millionen Menschen.
Dieses unmoralische Werk wollen sie schönreden. Wir DDR-Bürger sollten uns alle über die Vereinnahmung unseres sozialistischen Staates durch die kapitalistische Bundesrepublik freuen. Das erwartet man von uns mit Selbstverständlichkeit. Und wenn ich mich nicht freue? Und wenn ich darauf bestehe, daß ich einem sozialistischen Gesellschaftssystem näher stehe als einem raffgierig-geldorientierten kapitalistischen Staat? Gesteht man mir dann das Recht der Andersdenkenden zu? Peter Hacks schrieb nach der „Veruneinigung“ 1990, der schlechteste Sozialismus sei ihm lieber als der beste Kapitalismus. Das tröstet mich, bin ich da doch in bester Gesellschaft.
Mein Leben im Land DDR war nicht grau und elend, meine Freiheit war weit nach Osten ausgedehnt und bestand aus der „Einsicht in die Notwendigkeit“, der Übermacht des Kapitalismus im Kalten Krieg zu begegnen. Für mich war die sozialistische Gesellschaft eine solidarisch gerechtere mit einem guten Gesundheits- und Sozialsystem, einem umfassenden Bildungswesen fürs Volk und einer beispielhaften Förderung von Kunst, Kultur und Sport. Die fortschrittlichen Gesetze zur Gleichberechtigung der Frauen und deren praktizierte Realität sowie der gesetzlich verankerte Schutz und die Förderung von Kindern und Jugendlichen waren beispielhaft. Und vor allem: Es gab keine Beteiligung der DDR an Kriegen!
Ich bestehe auch darauf, daß mein Leben einen Sinn haben konnte: den Sozialismus besser zu machen, ihn demokratisch reformieren zu können durch Offenlegen bitterer Wahrheiten in kritischen Büchern und Filmen. Mein Schreiben für Kinder war getragen von der Verantwortung, auf poetische Weise humanistische Botschaften zu vermitteln. Und ich bestehe darauf, daß ich mich als Kind armer Leute, als Mädchen, als junge Frau in Beruf und Studium entfalten konnte, daß meine Entwicklung als Frau durch gute Gesetze gestützt war, meine Kinder für wenig Geld in einen Betriebskindergarten gehen konnten, was mir das Studieren ermöglichte.
Mit Hilfe meines Betriebes, des DEFA-Dokumentarfilmstudios Potsdam-Babelsberg, konnte ich ein kostenloses Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen absolvieren und später am Literaturinstitut Leipzig mit staatlichem Stipendium ein weiteres Studium anschließen. Und ich war damals nicht Parteimitglied! Die fortschrittlichen Gesetze zur Emanzipation haben Millionen Frauen erkannt und wahrgenommen. Sie halfen ihnen auf dem Wege zur sozialen und ökonomischen Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen.
„Das Beste an der DDR sind die Frauen“ hieß es in den siebziger Jahren im bundesdeutschen Blätterwald. Und Mütter haben dieses natürliche Selbstbewußtsein von Frauen, die von Männern ökonomisch unabhängig sein konnten, an die Töchter und Enkeltöchter weitergegeben, und diese werden es wiederum ihren Töchtern vermitteln. Auch das hat Bestand.
Deshalb bin und bleibe ich das Mädchen, die junge Frau und die alte Frau „aus dem Osten“. Diese DDR-Identität lasse ich mir nicht nehmen. Sie gibt mir Kraft und steht mir zu. Ich gebe auch gern meinen großdeutschen „Freiheits“-Paß zurück, denn der Preis der verheuchelten Freiheit ist mir zu groß.
Wenn ich wahrheitsgemäß mein Leben in der DDR verteidige, bezichtigt man mich der Schönfärberei. Das Siegerprinzip der über uns gekommenen „demokratischen“ Macht praktiziert seit Jahren: Nichts soll bleiben von der DDR! Nichts! Und Verleumdung ist auf ewig angesagt.
In jedem Menschen steckt ein Teil der Wahrheit eines Landes, deshalb sollte man auch unsere Stimmen, die das verlorene Land verteidigen als einen Teil der objektiven Wahrheit, endlich akzeptieren und unangefochten im Raum stehen lassen.
Jetzt – im nachhinein – weiß ich, warum ich dieses Land DDR, das ich manchmal zornig verwünscht, gegen das ich zuweilen rebelliert habe wie gegen einen zu strengen Vater, im Grunde meines Herzens geliebt habe. Es war trotz Mauer und überzogener Staatssicherheit ein friedliebendes, sozial gerechtes und solidarisches Land für die einfachen Menschen. Es war, wie Sarah Kirsch es in einem ihrer Gedichte 1967 benannt hatte, „mein kleines wärmendes Land“, das in seiner Verfassung das Recht auf Arbeit, sowie einen staatlich verordneten Antifaschismus verankert hatte, der ein Aufkommen des Neofaschismus verhinderte.
Und ich weiß jetzt auch, daß die DDR das humanere Gesellschaftssystem war. Die Regierung und die an der Spitze stehenden Politiker ließen im November 1989 trotz ihrer Verfügungsgewalt über Armee, Polizei und Staatssicherheit keinen Bürgerkrieg, kein Blutvergießen zu. Wichtiger als sich an die eigene Macht zu klammern, war ihnen der Wille des Volkes. Dieser beispiellose Vorgang – so abzutreten – würde sich bei einer kapitalistischen Regierung niemals wiederholen. Damals endete der Traum von einem reformierbaren demokratischen Sozialismus, an den wir fest geglaubt hatten.
„Die Menschheit soll heiter von ihrer Vergangenheit Abschied nehmen“, sagte Karl Marx. Gewiß. Doch manchmal, angesichts bitterer Realitäten anhaltender Verleumdungen, Demütigungen, von Arroganz und Geschichtsfälschungen fällt es schwer, heiter zu bleiben. Doch da tröstet mich wieder mein Lieblingsdichter Hölderlin mit seinem Hoffnungssatz: „Was einmal war, bleibt in der Welt. Man kann es nicht zurücknehmen.“ Und so wird auch die Erinnerung von Müttern und Vätern an Töchter und Söhne vielleicht weitergegeben und hoffentlich auch an Enkel und Urenkel …
Am 7. Oktober – an dem vor 65 Jahren die DDR gegründet wurde – werden meine Freunde und ich an unser verlorenes Land, das man im Herzen trägt, zurückdenken.
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