RotFuchs 197 – Juni 2014

Zur kapitalistischen Ideologisierung der Eliten in der BRD

Eindrücke einer jungen Künstlerin

Samira Manthey

Als neue Autorin des RF möchte ich mich zunächst kurz vorstellen.

Ich bin 1983 geboren, wohne im Landkreis Lutherstadt Wittenberg und übe nach abgeschlossenem Studium einen künstlerischen Beruf aus. Vor allem an der Hochschule gesammelte Eindrücke und erworbene Erfahrungen liegen diesem Beitrag zugrunde.

Im RF 191 wurden die älteren ostdeutschen Sozialisten dazu aufgerufen, sich der jüngeren stärker anzunehmen, aber nicht von ihnen zu erwarten, sie würden den Dingen die gleiche Bedeutung beimessen wie sie selbst. Zu dieser Thematik möchte ich gerne einen Beitrag leisten. Mir geht es vor allem um die Frage, wie heutzutage die kapitalistische Ideologisierung der Eliten funktioniert. Hochschulen sind staatliche Institutionen und im Kapitalismus dort angesiedelt. Das bedeutet, daß auch die jungen Ostdeutschen im Sinne kapitalistischer Auffassungen erzogen und mit entsprechenden Denkmustern vertraut gemacht werden.

1990 wurden die geistigen Eliten der DDR in einem bisher nie dagewesenen Maße ersetzt, zumeist durch westdeutsche. Damit legte man den Grundstein dafür, die Kultur der DDR und deren herausragenden Beitrag zur humanistischen Tradition auszulöschen. Die heutigen Eliten auf früherem DDR-Gebiet werden mit den verschiedensten Methoden in das kapitalistische System hineingezogen und können sich ohne die Hilfe der älteren Ostdeutschen dem nicht entziehen.

Die kapitalistische Ideologisierung funktioniert durch Zeitraub mit allumfassender Beschäftigung und Ablenkung. Das bedeutet nicht nur, das Spielerische in Kunst, Forschung und Wirtschaft aufzusaugen und nachzuahmen. Es sind auch nicht nur Internet- und Handyspiele, die zerstreuen, nicht nur der E-Mail-Verkehr nach Feierabend und die Spektakelkultur, die ständig nach „Neuem“ giert. Es ist nicht nur die Konzentration auf die Form, die das ständige zeitaufwendige Herumbasteln an der oberflächlichen Erscheinung perfektionieren möchte, und es bedeutet auch nicht nur, bei jedem größeren Kauf zwei Wochen zuvor recherchieren zu müssen. Es heißt vielmehr, auch in der Wissenschaft, der Theorie die Zusammenhänge nur in kurzen Zeiträumen zu betrachten, Geschichtsvergessenheit und geschichtsferne Studenten zu fördern, die sich beständig nur um den „neuesten Schrei“ kümmern. Es bedeutet ebenso zu leugnen, daß in der Historie einmal in Gang gebrachte Ursache-Wirkung-Ketten erst dann ihre Gültigkeit verlieren, wenn es dazu berechtigte Annahmen und Beweise gibt, nicht aber dadurch, daß sie bereits lange bestehen.

Kapitalistische Ideologisierung der Eliten funktioniert durch das Säen von Zweifeln und Hoffnungslosigkeit, indem man ihnen eintrichtert, man könne alles „so oder so“ sehen, Begriffe verlören ihre Eindeutigkeit, Möglichkeiten wären schöner als „Festschreibungen“, es gäbe keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Individuen und vor allem nicht die daraus resultierende Verantwortung füreinander. Hoffnungslosigkeit, indem man ihr Denken auf den Ist-Zustand fixiert: Es werden nur Fragen nach dem Was gestellt, nicht aber nach dem Warum. Man leugnet, daß es Ketten von Ursache und Wirkung gibt. So fragt man natürlich auch in der Kunstwissenschaft nicht nach der Wirkung von Kunst, sondern reiht lediglich deren diverse Erscheinungsformen wie eine Perlenkette auf die Schnur eines bestimmten Begriffs.

Kapitalistische Ideologisierung der Eliten funktioniert auch durch Menschenrechtsverletzungen. Die Ellenbogenmentalität produziert seelisch Kranke ohne Rückgrat, willenlos, verletzlich, wie Knetmasse gefügig, funktional auch dann, wenn sie sich für individuell oder selbstbestimmt halten. Gerechtigkeit wird ebenso als „Kann man so oder so sehen“ definiert, als individuelle Entscheidung, was de facto ihre Abschaffung bedeutet.

Durch selbstverständliche, alltägliche Menschenrechtsverletzungen der Autoritäten wird Gerechtigkeit, also Gleichheit der Bedingungen, abgewertet: Nach der sogenannten Wende löschte man sie zugunsten eines rückschrittlichen Freiheitsbegriffes aus. Diese „Freiheit“, die uns mißfällt, ist deswegen keine Freiheit, weil es sie nicht ohne Gleichheit gibt.

Rassismus wird verdreht: Statt Faschismus und Chauvinismus in ihrer hintergründigen Wirkungsweise zu begreifen, wird der Begriff Xenophobie (Angst vor Fremden) als Nichterkennen anderer und Furcht vor deren Kultur definiert. Man reduziert Aussagen auf ihren wörtlichen Inhalt. Dadurch wird die als selbstverständlich erachtete Xenophobie gewissermaßen „geerdet“: Man sieht sich im Recht, keine Ausländer einzustellen oder Kulturen anderer Länder für unterlegen zu halten. Dabei heißt ja interkulturelle Kompetenz gerade, den eigenen Bedeutungskontext zu überschauen und gleichsam den anderer zu erkennen und anzuerkennen.

Kapitalistische Ideologisierung der Eliten funktioniert durch den Glauben an die sogenannte Post-Politik (post wird hier im Sinne des Wortes „nach“ verwendet – RF). Eliten dienen in jedem System einem ganz bestimmten Zweck: Sie würden sowohl ohne das System keine Funktion mehr haben als auch in einem anderen System wieder nach anderen Kriterien aussortiert werden. Post-Politik will glauben machen, Politik wäre überholt oder unnütz. Es wird behauptet, Politik würde als solche nicht funktionieren. Damit rechtfertigen die Verfechter dieser These, daß sie sich nicht umfassend und kritisch informieren müssen. Sie achten weder auf Fakten noch auf Gerechtigkeit, so daß ein Verständnis der aktuellen Weltlage nicht erreicht werden kann. Es werden die vielfältigen Erscheinungsformen betrachtet, die man nach ihrer Meinung so oder so bewerten kann, aber die Fähigkeit, Zusammenhänge auf der Basis des Nicht-Gelogenen zu erkennen, geht schon in meiner Generation verloren.

Man fragt sich nicht, wer lügt, weil man denkt, das sei gar nicht so wichtig. Sie haben keine Probleme mehr, solange es ihnen selbst gutgeht, und daher fehlt die Notwendigkeit zu erkennen, daß das Soziale im eigenen Interesse liegt. Sie wollen keinen Frieden erreichen, weil sie denken, solange sie selbst in Ruhe gelassen werden, herrsche ja Frieden. Was muß also passieren, bis sie die Grenzen erkennen, die sie täglich handelnd überschreiten, indem sie Kriegsparteien wählen, den Waffenhandel unterstützen, Schokolade aus von Kindersklaven gepflückten Kakaobohnen essen, die Übermacht der Wirtschaftsbosse sowohl mit ihrem letzten Cent als auch mit ihrer körperlichen und geistigen Kraft füttern? Und so wenig ich selbst zu glauben vermag, daß Menschen so dumm sein können – nicht wenige sind es leider doch! Bei Fehlern der Politik frage niemand mehr nach der Ursache, nach dem genauen Grund, nach dem Auslöser für Probleme, hat mir neulich eine Studentin bei einer gemeinsamen Zugreise berichtet.

Kapitalistische Ideologisierung der Eliten funktioniert durch Unterbindung von Aufrichtigkeit. Auch hier geht es darum zu verstehen, daß nicht nur das unaufrichtige Handeln selbst negative Effekte hat, sondern vor allem auch der Griff zu Sanktionen gegen jene, welchen Aufrichtigkeit wichtiger als geheuchelte Höflichkeit ist. Aufrichtigkeit wird vermißt in Werbung und Vermarktung, in der Beziehung zwischen Autoritäten und von ihnen Abhängigen, in der Wissenschaft, in Finanzierungsmodellen jeglicher Art, im Verhältnis der Politiker zu ihren Wählern und vor allem in den Medien. Doch am allerschlimmsten ist die mangelnde Aufrichtigkeit der Menschen sich selbst gegenüber und die fehlende Förderung dieser lebensnotwendigen Fähigkeit. Die Aufmerksamkeit der Studenten in den Bildungsinstitutionen wird durch Lehrkräfte nach außen gelenkt. Wer dieser Art zu denken nicht folgt, erreicht keinen Abschluß.

Auch im Osten können wir jeden Tag erleben, wie Arbeiter, die es sogar aufgrund ihrer Bildung und Erziehung besser wissen sollten, „Bild“ lesen oder andere profitorientierte und angepaßte Medien konsumieren, statt sich beispielsweise an der „Linken“ zu orientieren, die ja als einzige unter den Bundestagsparteien die Interessen der Mehrheit vertritt. Statt Selbstbewußtsein will man lieber Selbsterniedrigung, zu anderen bewundernd aufschauen. Statt das eigene Leben zu leben, wollen viele lieber das von anderen passiv verfolgen. Auch die erwähnten Eliten eignen sich nicht dazu, auf einen Umbruch hinzuarbeiten. Ich habe das zuvor ja beschrieben. Aus meiner Sicht besteht die einzige Chance derzeit darin, die weiterhin wachen, aufmerksamen, aufrichtigen Sozialisten im Lande und darüber hinaus zu sammeln. Die alternative Lösungssuche bleibt momentan noch als Frage stehen, denn sich an „dieses Dreckssystem“ anzupassen, wie es ein Berliner Selbständiger mir gegenüber treffend nannte, kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Werner Eberlein hatte sich der Aufgabe angenommen, „denen, die eines Tages zu neuen Ufern aufbrechen wollen zu hinterlassen, welche Fehler sie meiden sollten und wieviel Mut und Charakter zu einem solchen sozialistischen Vorhaben gehört“. Er gab damit das positive Beispiel eines Alten, der sich um die Jungen bemüht.

Man könnte den Begriffsperlenkettendenkern mit Kurt Tucholskys Rat antworten: „Wenn man die Leute erreichen will, muß man zuerst in ihrer Sprache mit ihnen kommunizieren.“

Viele von denen, die entweder die mediale oder die institutionelle Propaganda bereits durchschauen, übersehen die Tatsache, daß es zur Entwicklung des Widerstandes nicht ausreicht, das Bestehende abzulehnen, kritisch zu hinterfragen oder unbeachtet zu lassen. Man muß auch etwas haben, das Einfluß beschert, bestätigt, fordert, abverlangt, aufklärt, die eigene Energie aufnimmt und zurückwirft. Etwas, das sympathisch ist, einem recht gibt oder zum Nachdenken anregt und eigene Intelligenz fordert. Und man muß Wege finden, diese Haltung zu verbreiten und einzubürgern.

Um aber eine Verankerung der sozialistischen Ausrichtung in Wissenschaft und Kunst zu erreichen, ist die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen dieser BRD nicht möglich. Kapitalistische Ansichten beherrschen dort das Denken der meisten, abweichende Wertesysteme werden nicht wahrgenommen und besitzen derzeit keine bedeutsame Macht. Zudem ist die Kultur in diesem Staat vor allem selbsterhaltend: Sie stellt seine Sichtweisen als einzige und allumfassende dar, nicht etwa als eines der möglichen Wertesysteme auf dieser Erde.

Auf einen Umbruch hinzuarbeiten, muß heißen, auf eine Zukunft danach vorbereitet zu sein. Das gilt für die einfachsten Probleme wie für die komplexeren Zusammenhänge.

Man muß dem Kapitalismus zugestehen, daß die politischen und ideologischen Machtmittel, von denen er Gebrauch macht, jenen der DDR-Führungskreise insofern überlegen sind, weil er zwar beständig lügt, seinen Einfluß dabei aber subtil hält. Man verbietet keine Filme, sondern redet sie schlecht. Man verweigert keine Filmproduktion, sondern fördert sie nicht. Man verfügt über eine ausgeklügelte „Bewußtseinsindustrie“ (Enzensberger). Kapitalmacht will keine intelligente Gesellschaft, sondern eine möglichst dumme. Man will keine aufgeklärten Bürger, sondern unterwürfige. Man will seine Herrschaft erhalten und ausbauen. Dazu eignen sich der scheinbare Überfluß an Informationen und die zersplitterten Meinungen an der Basis, die überwiegend auf Vorurteilen beruhen und in ihrer Gesamtheit Indifferenz ergeben. Das ist für den Kapitalismus ideal, weil sich die Gesellschaft dadurch nicht vereint. Und die Unterlegenen haben ja nur Macht, wenn sie sich vereinen.

Ich stelle mir manchmal die Frage, ob die Menschen, sobald man die kapitalistischen Eliten eines Landes austauschen würde und an ihre Stelle Sozialisten träten, wieder sozialistischer würden. Ich habe mit vielen Ost- und Westdeutschen über die DDR gesprochen. Ich glaube, daß die Arbeiter im Osten durchaus mitmachen würden, wenn wir ihnen etwas wirklich Funktionierendes anbieten könnten, das sie aus ihrer Armut und Melancholie, aus dem ganzen gesellschaftlichen Rückschritt wieder herausholt. Nur: Warum tun sie das nicht selbst?

Leider sind viele der älteren Ostdeutschen passiv geworden. Gepaart mit den überwiegend angepaßten und daher dem System gegenüber unkritischen Westdeutschen können sie uns Jüngeren die Hoffnung auf einen Wandel der Verhältnisse rauben. Sie ignorieren Menschen wie mich, die ihre humanistischen Werte klar und deutlich verteidigen und sich nicht verbiegen, nichts klein- oder schönreden und relativieren, nicht Hündchen spielen.

Junge Ostdeutsche brauchen dringend die älteren Sozialisten. Noch gibt es sie! Doch ihre Zahl nimmt deutlich ab. Die DDR besaß eine Unmenge höherer Qualitäten als der Westen, von denen heute leider viele nichts mehr wissen oder wissen wollen. Wir aber sollten dieses Potential an Erfahrungen zu unserem Vorteil nutzen und als Machtmittel gegen das Kapital einsetzen.