Volksentscheide zur Enteignung der Kriegs- und Nazi-Verbrecher
Eine historische Zäsur
In einigen europäischen Staaten fanden 1946 Volksentscheide statt, in denen über privatkapitalistisches Eigentum entschieden wurde. In Sachsen wurde am 30. Juni 1946 über die Enteignung von Kriegs- und Nazi-Verbrechern abgestimmt, in Hessen am 1. Dezember 1946 über den Artikel 41 der hessischen Verfassung. Am Volksentscheid in Sachsen beteiligten sich 93,71 % aller Wahlberechtigten.
Für die Überführung dieser Betriebe in Volkseigentum stimmten 77,62 %, dagegen 16,56 %, ungültig waren 5,82 %.
In Hessen wurde über den Artikel 41 der Landesverfassung entschieden. Er lautet: „Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden
1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohle, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen;
2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet die Großbanken und Versicherungsunternehmen …“
Für diesen Artikel stimmten 71,9 %, für den Verfassungsentwurf 76,6 % der Wähler.
Die Profiteure von Zwangsarbeit und Häftlingsausbeutung (auf unserem Foto französische Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora) sollten enteignet werden.
Das war ein gleiches demokratisch dokumentiertes Votum für den Bruch mit der faschistischen Vergangenheit und für die Errichtung einer neuen Demokratie wie in Sachsen.
Doch der amerikanische Generalgouverneur Lucius D. Clay erklärte: „In einer Zeit, in der die USA so viel Geld aus eigener Tasche zahlen, um Deutschland zu unterstützen, haben sie das Recht, ihre Meinung zu sagen und Experimente nicht zuzulassen.“ So las man es am 16. August 1946 in der „Neuen Ruhrzeitung“. Das war ein faktisches Verbot für die Anwendung des Artikels dieses Verfassungsentwurfs. Indessen bewies die Tatsache, daß Volksentscheide in Hessen und Sachsen sowie parallele Bestrebungen anderenorts, beispielsweise in Berlin, stattfanden, zunächst einmal, daß es eine breite Zustimmung zu der Forderung gab, die Wurzeln von Krieg und Faschismus auszureißen. Zu diesen ökonomischen Wurzeln gehörten zweifellos Teile des deutschen Imperialismus, die Hitler in die Regierung gehievt und den Faschismus als Mittel zur Durchsetzung ihrer innen- und außenpolitischen Ziele und Interessen eingesetzt hatten.
Diese Erkenntnis war 1945/46 Leitlinie der Politik der Siegermächte wie auch Schwerpunkt in programmatischen Erklärungen aller großen deutschen Parteien.
Das Potsdamer Abkommen, die Prinzipien des in Nürnberg zusammengetretenen Militärtribunals und die Bestimmungen der UNO-Charta verfolgten dasselbe Hauptziel: Der Faschismus und dessen Hintermänner dürfen nie mehr zu einer Gefahr für die Welt werden.
In der Rede des US-Hauptanklägers im Nürnberger Prozeß heißt es: „Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Industrie und der Nazipartei hätten Hitler und seine Parteigenossen niemals die Macht in Deutschland ergreifen und festigen können, und das Dritte Reich hätte nie gewagt, die Welt in einen Krieg zu stürzen.“
Damals war zeitweilig auch die USA-Regierung partiell an dieser Politik beteiligt. Das wird u. a. durch die „schwarze Liste“ des Kilgore-Ausschusses des USA-Senats vom 11. Oktober 1945 bestätigt, auf der 42 Vertreter der Schwerindustrie und Hochfinanz als Kriegsverbrecher aufgelistet worden waren, darunter Friedrich Flick, Alfred Hugenberg, Florian Klöckner, Georg von Schnitzler, Hugo Stinnes und Karl Rasche.
Einige, so Krupp und Flick, saßen auf der Nürnberger Anklagebank, die Untaten anderer werden erst jetzt genauer erforscht, z. B. die Rolle Karl Rasches als Verbindungsmann der Dresdner Bank zu Himmlers SS, bei der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und bei der Ausplünderung okkupierter Volker.
Die Parteien – CDU, SPD, KPD, FDP/LDPD und andere – konnten weder ihre Vergangenheit noch die entstandene Situation außer acht lassen. Im Hinblick auf ihre Stellung zu Monopolen und Banken fällt auf: „Es ist erstaunlich, daß die Intentionen der deutschen Partei-gründer in allen vier Besatzungszonen keine großen Unterschiede aufwiesen.“
Die CDU Adenauers formulierte das in ihrem Ahlener Programm vom 3. Februar 1947 so: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“
„Besonders populär sind planwirtschaftliche Erwägungen mit einer Vorliebe für die Enteignung von Industriebetrieben und Banken“ schrieb Konrad Adenauer in einem Leserbrief, der am 18. Mai 1946 vom „Neuen Deutschland“ veröffentlicht wurde.
Kurt Schumacher forderte in den politischen Richtlinien für die SPD im Juli 1945: „Aus dem Klassencharakter des Nazismus ergibt sich zu seiner Überwindung als Konsequenz: der Sozialismus. Die Voraussetzung ist die völlige Zerbrechung der finanzkapitalistischen, imperialistischen und militärischen Linie. Die Arbeit kann sich nicht im Negativen erschöpfen. Das positive Ziel und einzige ausreichende Sicherung gegen die Wiederkehr solch volkszerstörender und weltgefährdender Kräfte ist die Änderung der ökonomischen und gesellschaftspsychologischen Voraussetzungen der deutschen Politik.“
In einer „Spiegel“-Serie über die deutsche Nachkriegsentwicklung, die Ende 2005 veröffentlicht wurde, findet der Leser in der Nr. 50/2005 bemerkenswerte Feststellungen: „Kurt Schumachers SPD sicherte sich die Arbeiterklasse mit dem Versprechen, daß die Konsequenz aus der dunklen Vergangenheit nichts anderes sein könne als ein demokratischer Sozialismus.“
Dieses Ziel stand im Berliner Programm der SPD vom Dezember 1989, mit dem die Partei in die deutsche Einheit ging.
Die KPD sah sich in ihrer Verurteilung der imperialistischen Hintermänner des Faschismus bestätigt, lehnte aber eine sofortige Sozialisierung in ihrem Aufruf vom 11. Juni 1945 ab: „Daher fordern wir: Keine Wiederholung der Fehler von 1918! Schluß mit der Spaltung des schaffenden Volkes! Keinerlei Nachsicht gegenüber dem Nazismus und der Reaktion! Nie wieder Hetze und Feindschaft gegenüber der Sowjetunion; denn wo diese Hetze auftaucht, da erhebt die imperialistische Reaktion ihr Haupt!“
Hier kann nicht untersucht werden, ob und in welchem Maße bürgerliche Politiker Konzessionen an den damaligen „Zeitgeist“ machten, um zunächst einmal Zeit zu gewinnen, bis die Antihitlerkoalition zerbricht (was schon Goebbels gehofft hatte). Sicher ist: Der Volksentscheid in Sachsen war ein notwendiger revolutionärer Schritt, ein Akt demokratischer Selbstbestimmung, aber keine „Sowjetisierung“ (Hermann Weber), „kommunistische Diktaturdurchsetzung“ (Mike Schmeitzner) oder „Stalinisierung“, wie ihn nun auch einige „Linke“ etikettieren.
Wer den Volksentscheid als politisch notwendigen, historisch und moralisch gerechtfertigten Schritt wertet, was Enteigneten und ihren Soldschreibern kaum möglich sein dürfte, müßte natürlich auch die subjektiven Bedingungen, den internationalen Kontext und die Langzeitwirkungen bedenken.
Was die Bedingungen betrifft: Die Einheit der Arbeiterbewegung, im April 1946 hergestellt, war die erste und wichtigste Bedingung für den Erfolg des Volksentscheids und die Chance, sein Ergebnis zu verwirklichen.
Die SED war der Motor und der Kern des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien.
Auch in anderen Ländern – in der Tschechoslowakei, Polen, Italien, Frankreich, Griechenland – gab es nach 1945 eine breite Bewegung, in den neuen Verfassungen die Macht der Banken und Monopole zu überwinden oder zu beschränken. Das geschah keineswegs auf „Weisung Stalins“, sondern als Konsequenz aus eigenen historischen Erfahrungen.
In Italien proklamierte Lelio Bosso, ein führender Sozialist: Es herrscht keine Demokratie, „solange es wirtschaftliche und soziale Ungleichheit gibt“. Im Sozialkatholizismus gab es eine starke Strömung gegen das kapitalistische Eigentum.
In Frankreich wurde in Anlehnung an die Erklärung der Menschenrechte von 1789 über die Rolle des Privateigentums gestritten. Dieses müsse dem Wohl der Allgemeinheit untergeordnet werden. Erst bei einem Referendum vom 5. Mai 1946 wurde der Streit zugunsten des Vorrangs des Privateigentums mit einer knappen Stimmenmehrheit von 53 % entschieden.
In Großbritannien begann Mitte 1945 die Ära des „Labour-Sozialismus“. Er schloß die Verstaatlichung von Bergbaubetrieben, Schlüsselindustrien und Banken und ein umfassendes „Sozialprogramm“ ein, das mithelfen sollte, der Krise des Empire entgegenzusteuern und England zur Führungsmacht in Westeuropa zu entwickeln.
Dresdner Bürger diskutieren
über den bevorstehenden
Volksentscheid über die
Enteignung der Kriegsverbrecher.
Die Tatsachen beweisen: Forderungen, die Macht der Monopole und Banken einzuschränken, gab es nicht nur östlich der Elbe. Und: Die Idee des Sozialismus war nach 1945 eine Hoffnung überall in Europa, nicht nur in sowjetisch besetzten Staaten. Die Angriffe auf die Sozialisierungsbestrebungen, nicht zuletzt als Reaktion auf den Volksentscheid in Sachsen, erfolgten auf unterschiedliche Weise. Auf die verleumderischen Thesen von der „Stalinisierung“ und „Sowjetisierung“ wurde bereits hingewiesen.
Wolfgang Leonhard, der seit Mai 1945 als Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ selbst an der Gestaltung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung mitgewirkt hatte, schrieb rückblickend auf das Jahr 1946: „Erst in der zweiten Junihälfte gab es wieder Aufgaben – am 30. Juni 1946 sollte ein Volksentscheid für die Enteignung und Entmachtung der Kriegs- und Naziverbrecher im Lande Sachsen stattfinden. Der Volksentscheid am 30. Juni 1946 diente jedoch weniger dem Zweck, die schon vorher beschlossene Übergabe der Betriebe der Kriegs- und Naziführer in die Hände des Staates zu bestätigen, sondern es ging in erster Linie darum, ein Bild von der im Volke herrschenden Stimmung zu erhalten.“
Nach der „Wiedervereinigung“ versuchten damals Enteignete, die „Restitution“ durchzusetzen, von den Wettinern, die schon Mitte der zwanziger Jahre entschädigt worden waren, bis zu den Erben der Arzneimittelfirma Madaus in Radebeul.
In der Tat: Der Volksentscheid hatte im Osten Deutschlands auf demokratischem Wege eine radikale Umgestaltung der Eigentums- und Machtverhältnisse ermöglicht.
Beim Volksentscheid war über die Zukunft von 1181 Betrieben abgestimmt worden, die in das Eigentum des Landes Sachsen übergingen. Ihr Gesamtkapital wurde auf 1 024 952 000 RM beziffert.
Stimmzettel zum Volksentscheid in Hessen vom 1. Dezember 1946
Der Volksentscheid in Sachsen war zweifellos eine historische Zäsur in der Geschichte der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in Ostdeutschland. Die neuen politischen Machtorgane erhielten eine stärkere ökonomische Basis. Die Möglichkeiten der kapitalistischen Kräfte zu Sabotage und Restauration wurden eingeschränkt. Die Volkswirtschaft konnte schrittweise geplant werden. Natürlich hob die Entstehung des Volkseigentums andere gravierende Nachteile gegenüber der Entwicklung in Westdeutschland nicht auf, so die Last der Reparationen, das Fehlen von Schwerindustrie, von Überseehäfen und andere ungünstige Faktoren.
Die DDR war „befehdet seit dem ersten Tag“, und viele Entscheidungen ergaben sich nicht aus ihrer sozialistischen Zielsetzung, sondern als Reaktion auf imperialistische Angriffe, insbesondere im Sicherheitsbereich. Dennoch wuchs die kleine Republik zum achtgrößten Industriestaat der Welt heran, der lange Zeit als Bastion des Friedens in Europa agieren konnte.
Der Volksentscheid in Sachsen vom Juni 1946 und seine zeitweilig segensreichen Folgen und Lehren sind aus der Geschichte nicht zu löschen.
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