Erfahrungen eines katholischen Mitgestalters
von vier Jahrzehnten DDR
Eine stets präsente Vergangenheit
Zur Zeit schreibe ich an der Lebensgeschichte meines Onkels Herbert Gold. Seine Wegstationen als Antifaschist im Zuchthaus und im KZ, später als in den Krieg Gezwungener und danach sind wieder im Blickfeld meiner Erinnerungen. Er hat mich zu Aufrichtigkeit und Toleranz sowie zum Eintreten für Frieden, Menschenwürde und sozialen Fortschritt liebevoll miterzogen und geprägt.
Als ich 1949 aus der Lungenheilstätte Waldwiese bei München in den Osten Deutschlands kam, hoffte ich auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. Auch in der amerikanischen Zone hatten sich gute Freunde um mich gekümmert. Mit ihrer Hilfe wäre mir der Zugang zu Bildung und Beruf dort ebenfalls ermöglicht worden. Doch ich sah meinen Platz bei den Eltern und meiner Großmutter im Osten.
Es herrschte damals noch allenthalben Mangel, auch Lebensmittelknappheit. Mein täglicher Weg zum Werkzeugbau Fichtel & Sachs war genauso beschwerlich wie die völlig ungewohnte Arbeit. Doch jeden Tag gab es ein schmackhaftes und kostenloses Mittagessen aus der Betriebskantine.
Damals trat ich der Volkssolidarität, dem FDGB und der FDJ bei. Ich engagierte mich mit Herz und Verstand. Die Ziele dieser Massenorganisationen entsprachen ganz meinen Vorstellungen. Zu einer SED-Mitgliedschaft kam es indes nicht. Der Parteisekretär im Betrieb war ehrlich und sagte mir ohne Umschweife, meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche stehe einem Eintritt entgegen. Bei diesem Gespräch gab es keine gegenseitigen Vorwürfe, auch erwuchsen mir keine Nachteile.
Ende 1949 trat ich der NDPD bei. In dieser Partei oder in deren Auftrag wurden mir 40 Jahre lang verantwortliche Funktionen übertragen. Sie waren für mich das bestimmende Bindeglied zur DDR. Wie es im Leben nicht anders sein kann, blieben Höhen und Tiefen, Freuden und Enttäuschungen nicht aus. Politisch oftmals recht eigenwillig, überdies mit christlicher Glaubensbindung und einem „linken Herzschlag“ blieben mir in meinem Arbeitsleben Stolpersteine nicht erspart. Bei Wahrnehmung von Aufgaben, die mir entweder die NDPD übertragen oder in die man mich delegiert hatte, erfuhr ich auf meine Weise die Wahrheit über das Leben in der DDR. Dieses bestand nicht allein aus bequemen „Spaziergängen“. Immer galt es, sich im Wettstreit mit den Genossen zu beweisen. Bisweilen prallten die Meinungen über mich auch hart aufeinander. Ich „ließ Federn“ und lernte manches hinzu. Die Würdigungen durch den Deutschen Friedensrat und den Nationalrat der Nationalen Front bedeuten mir auch heute noch viel.
Wer sich engagiert, muß immer damit rechnen, irgendwo anzuecken oder auch selbst nicht im Recht zu sein. Die Sorge um den Staat DDR, seine Gestaltung und seinen Bestand unter den harten Bedingungen der Klassenauseinandersetzung verbanden mich mit ehrlichen Freunden und Genossen der SED und der anderen Blockparteien. Als die NDPD – meine politische Heimat, die mir gleichsam Familie war – zerbrach, empfand ich das als schmerzhaft und bedrückend.
Ich habe starrsinnige Funktionäre der SED erlebt, aber auch solche in den eigenen Reihen. Einem ganz und gar „betonköpfigen“ Verfechter seiner Alleinherrschaft bin ich zwar nicht begegnet, wohl aber Dogmatikern und Sektierern der verschiedensten Art. Mit zunehmendem Abstand vom „Bild der DDR“ werden – wie bei der wiederholten Betrachtung jedes großen Gemäldes – auch dessen Feinheiten immer deutlicher. Manche Vorstellungen, Wege und Handlungen entsprachen nicht den Maßstäben sozialistischer Moral und Ethik. Der Sozialismus war eben so gut oder so schlecht wie seine jeweiligen Gestalter. Auf deutschem Boden prallten zwei konträre Systeme aufeinander – das eine auf ausgetretenen Wegen, aber mit gewaltigen Potentialen, das andere auf völlig neuen Pfaden, aber mit einer zunächst schwachen ökonomischen Basis und nicht wenigen Menschen, die sich noch im Trauma der Niederlage oder in Trauer um verflossene Zeiten befanden. Unter diesem Knäuel von Widersprüchen, Ängsten und Vorbehalten litt auch mein Verhältnis zur Kirche. Ich habe nur wenige ihrer Amtsträger erlebt – darunter einen Bischof der Methodisten –, die unbefangen und ehrlich mit mir über Sorgen und Veränderungen gesprochen hätten.
Wenn ich heute mit anderen über die vergangene, doch in meiner Erinnerung immer noch sehr gegenwärtige DDR diskutiere, höre ich oft: „Ja, Sie waren ein Glückspilz, ein Ausnahmefall. Die meisten anderen haben das ganz anders erlebt …“
Dabei drängt sich mir eine Frage auf: Wie konnte die DDR bei all den Schwierigkeiten 40 Jahre bestehen, noch dazu erfolgreich und international anerkannt und das angesichts zunehmender Führungsschwäche im Kreml wie in „obersten Etagen“ des eigenen Landes? So viel „Aufpasser“ gab es ja wohl nicht, um bei den Bürgern der DDR das selbständige Denken und Handeln zu verdrängen oder gar auszuschalten, wie es so oft in den Mainstream-Medien behauptet wird.
Dr. Wilfried Meißner, Chemnitz ist Träger der Fritz-Heckert-Medaille.
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