Über das Glück, Moritz und Sonja Mebel begegnet zu sein
Eine unerschütterliche Freundschaft
Meine Freundschaft mit Moritz – dem emeritierten Professor der Medizin – besteht schon länger als ein halbes Jahrhundert. Wir waren beide noch recht jung, als ich diesem früh ergrauten, damals knapp 40jährigen Mann erstmals begegnete. Durch die Brillengläser sahen mich ums Erkennen bemühte kluge und bisweilen etwas traurige Augen so an, als wollten sie mich ergründen. Der Mediziner im weißen Kittel, zu dem ich in die Sprechstunde kam, hörte mich aufmerksam an, lächelte und sagte, wie mir schien, in seiner Muttersprache: „Lassen Sie uns Russisch sprechen, das wird für Sie bequemer sein …“ Seitdem sind wir immer zusammen, auch per Distanz.
Moritz wurde in Erfurt geboren. Er stammt aus einer jüdischen Familie. Nach Moskau kam er als Neunjähriger mit seiner Mutter und der älteren Schwester Susi. Der Vater stieß erst später zur Familie. Die Eltern meines Freundes waren zur Emigration in die Sowjetunion gezwungen, weil sich Deutschland zu einer tödlichen Gefahr für die ganze Menschheit entwickelte, die man „braune Pest“ nannte.
Die Moskauer Straße nahm den kleinen deutschen Emigranten schlecht in Empfang. Als er auf dem Hof erschien, wurde er von gleichaltrigen Kindern umringt, die ein in den 30er Jahren verbreitetes Spottlied anstimmten. Es begann – ins Deutsche übersetzt – mit den Worten: „Deutscher, mit Pfeffer, Wurst und faulem Kraut …“ Man versuchte, ihn zu verprügeln, doch er verstand sich aufs Raufen und wehrte sich.
Das Schönste für Moritz und Susi war damals die Karl-Liebknecht-Schule, in der Kinder deutscher und österreichischer Polit-Emigranten lernten. Moritz erinnert sich an das fest zusammenhaltende Kollektiv. Schüler und Lehrer, Erzieher und Pionierleiter – alle waren wie eine große Familie. Jedenfalls bis zu den Ereignissen des Jahres 1937 …
Die unerwartete Wende, die scheinbare Annäherung zwischen der UdSSR und Nazideutschland nach Abschluß des Nichtangriffspaktes konnten viele deutsche Polit-Emigranten nicht verstehen. Die Karl-Liebknecht-Schule wurde geschlossen, ihre Schüler verteilte man auf verschiedene russische Schulen in Moskau.
Im August 1940 wurde Moritz Student am Ersten Moskauer Medizinischen Institut. … Doch schon am 15. Oktober 1941 teilte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS mit, daß Hitlers Truppen 120 Kilometer vor der Hauptstadt stünden. In diesen kritischen Tagen bewarb sich der 18jährige Student Mebel – dem Appell der Partei folgend – als Freiwilliger um Aufnahme in das Kommunistische Arbeiterbataillon des Moskauer Frunse-Bezirks. Später wurden diese Einheiten zur Moskauer Kommunistischen Division zusammengelegt. Im Eilmarsch ging es auf die Wolokolamsker Chaussee – ohne warme Uniformen, nur in Schuhen mit Wickelgamaschen, bewaffnet mit aus dem Museum entnommenen alten französischen Gewehren und Munition in geringer Menge.
Im November 1941 begann die lange erwartete Gegenoffensive. Moritz machte viele Operationen mit, befreite mit seinen Genossen Siedlungen und Dörfer von den Hitlerfaschisten. Erstmals mußte er mit eigenen Augen deren Grausamkeiten wahrnehmen: die erschlagenen und in Brunnen geworfenen Kleinkinder, den verkohlten Körper eines Regimentskommandeurs, der an die Wand eines Gefechtsstandes gestellt worden war, und unter dessen Leichnam die fliehenden Okkupanten Feuer entfacht hatten. Völlig niedergebrannte Dörfer, Tod und Verderben …
Ein schrecklicher Gegner war auch der grausame Frost, zeitweilig bis zu 42 Grad Minus. Man konnte sich nur an den durch die geflüchteten Hitlerfaschisten in Brand gesteckten Häusern erwärmen. Erst im Februar 1942 wurden an der Nord-West-Front Winteruniformen ausgeteilt: Wattejacken, Wattehosen, warme Wäsche und Filzstiefel. Das Wichtigste: Nun bekamen die Soldaten auch echte sowjetische Gewehre. Zu diesem Zeitpunkt waren von den 180 Kämpfern der Kompanie, zu der Moritz Mebel gehörte, außer ihm nur noch zwei Mann am Leben.
Die Kommandeure wußten um die deutsche Muttersprache des Rotarmisten. So wurde Moritz Unterpolitleiter der Abteilung 7, die wie überall in der Armee für Konterpropaganda und Zersetzung der gegnerischen Truppen zuständig war. Über eine Lautsprecheranlage begann er mit Agitationssendungen für die Wehrmachtsoldaten. Fast die ganze Zeit war Moritz in der vordersten Linie. Die Gegner machten Jagd auf das Übertragungsgerät, gingen zu flächendeckendem Beschuß über, bisweilen auch mit Erfolg.
Für Moritz und seine Genossen war es schwer, vorerst von Deutschen besetztes sowjetisches Territorium in Augenschein nehmen zu müssen. Beim Rückzug unter den Schlägen der Roten Armee hinterließ Hitlers Wehrmacht ein leergefegtes, verbranntes Land. Besonders schlimm erging es unter der deutschen Besatzung jungen Frauen. Kräftige und Gesunde wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht, junge und hübsche Mädchen kamen im Hinterland der Okkupanten in Bordelle.
Einmal geriet Moritz selbst fast in Feindeshand, als er mit seiner fahrbaren Sendestation zwischen zurückweichende deutsche Einheiten kam, die – wie durch ein Wunder – das sowjetische Auto nicht erkannten. Hätten sie den alleinfahrenden LKW bemerkt, wären dessen Insassen unentrinnbar ums Leben gekommen: Einen deutschen Juden, der überdies auch noch Politoffizier der Roten Armee war, hätte man an Ort und Stelle erschossen. Dafür besaß die Wehrmacht einen Sonderbefehl Hitlers.
„Für mich selbst“, berichtete Moritz, „hatte ich eindeutig festgelegt: sofort eine Kugel in den Kopf, aber auf keinen Fall den Deutschen in die Hände geraten. Das Wichtigste dabei war, genügend Zeit zu haben, um sich erschießen zu können.“
Ein besonders schlimmes Kriegserlebnis war für Moritz das Übersetzen aufs Westufer des Dnepr. Dort hatte eine Vorhut der Roten Armee vor der Befreiung von Krementschug eine kleine Stellung erobert. Moritz erhielt den Befehl, sofort das andere Ufer zu erreichen und festzustellen, ob dort die Möglichkeit bestünde, eine Lautsprecheranlage zu installieren und mit dem Senden zu beginnen. Als einziges Transportmittel stand ein aufblasbares Gummiboot mit Munition zur Verfügung. „Falls auch nur eine Kugel oder ein Splitter das Boot getroffen hätten, wäre es sofort gesunken“, berichtete Moritz. Damit wäre er verloren gewesen, da er nicht schwimmen konnte. Es war ein Wunder, daß Kugeln und Splitter, die um das Boot herumflogen, dieses nicht beschädigt haben.
Ein Erinnerungszeichen aber hat ihm der Krieg dennoch hinterlassen. Bei Kämpfen in der slowakischen Stadt Nitra traf Moritz am 9. März 1945 der Splitter einer Handgranate in den Rücken, so daß er bis heute ein kleines Stück Kruppstahl bei sich trägt.
Für Moritz fand der Krieg auf deutschem Boden am 11. Mai 1945 sein Ende. Im Juni sollte er dann mit den anderen Truppenteilen der 53. Armee, in der er seit 1941 gekämpft hatte, zur 2. Baikalarmee in die Mongolei geschickt werden, wo der Krieg gegen das kaiserlich-militaristische Japan seinen Fortgang nahm. Doch er hatte Glück und wurde statt dessen in den Apparat der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland – der SMAD – abkommandiert. Dort begegnete er einem alten Bekannten aus Moskauer Kinder- und Jugendjahren: Es war Konrad Wolf – wie Moritz Offizier der Roten Armee. Gemeinsam leisteten sie politisch-ideologische Umerziehungsarbeit unter der deutschen Bevölkerung.
1947 demobilisiert, nahm Moritz sein durch den Krieg unterbrochenes Studium am Medizinischen Institut wieder auf. Erfolgreich verteidigte er danach seine Doktorarbeit als Lieblingsschüler des weltbekannten sowjetischen Urologen Anatolij Pawlowitsch Frumkin. Eine Rückkehr nach Deutschland hatte Moritz nicht geplant. Ein Teil seiner Verwandten – die Lieblingstante Anna, die Cousinen Ruth und Ellju – waren in Auschwitz vergast worden.
Die Jahre vergingen, und in seinem Leben erschien Sonja. Dieses langbeinige Mädchen aus den unteren Klassen der deutschen Karl-Liebknecht-Schule hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Sie trafen sich in Moskau wieder, schon als junge Fachleute. Sonja hatte auch das Erste Moskauer Medizininstitut absolviert. Mit dem Studium begann sie während der Evakuierung, als Moritz an der Front war. Ihre Lebensläufe ähneln sich in vielem. Auch sie emigrierte mit ihren Eltern in die UdSSR, die für sie zur zweiten Heimat wurde.
Sonja erzählte: „Mein Vater war ein überzeugter Kommunist. Er hat der Partei vom 15. Lebensjahr an geholfen, wurde mit 17 ihr Mitglied. Fast alle aus unserer Familie waren Kommunisten. Für meinen Vater stand fest: Nach dem Erlernen eines Berufs mußte er unbedingt in die Sowjetunion fahren, um seine Kenntnisse und Fähigkeiten für die neue Gesellschaft dort einzusetzen. Er hatte die Technische Hochschule in Dresden absolviert. Eine ihm danach angebotene interessante Arbeit in Südafrika schlug er zugunsten Moskaus aus.
Dort herrschte schrecklicher Frost, an den wir nicht gewohnt waren. Ich wurde so eingepackt, daß ich mich kaum bewegen konnte. Unsere Wohnung war nach damaligen Maßstäben phantastisch – mit Zentralheizung, Warmwasser, Gas und Badewanne. Das war Anfang der 30er Jahre. Wir wußten, daß im Land schwere Zeiten herrschten. Besonders schlecht stand es mit Lebensmitteln, was wir allerdings nicht direkt verspürten, da uns ‚Insnab‘ zugänglich war – eine Versorgung in beliebiger Menge für die im Lande tätigen ausländischen Fachleute.
Wir haben mit Vergnügen die deutsche Schule besucht. Das war für uns eine Art Glücksinsel. Wir verstanden das zwar noch nicht, fühlten es aber einfach. Das Verhältnis der Lehrer zu uns war erstaunlich gut, wir nannten sie ‚Genossen‘. Oft besuchten uns deutsche kommunistische Schriftsteller – Erich Weinert, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher. In der Schule herrschte eine besondere Atmosphäre, kamen doch immer wieder Kinder hinzu, deren Eltern in Gefängnissen und Konzentrationslagern Nazideutschlands schmachteten. Deshalb war der Faschismus für uns etwas sehr Reales, echt Vorhandenes. Viele Eltern kämpften auch als Interbrigadisten in Spanien.
Ich erinnere mich noch gut an ein Drama, das ich in der 3. Klasse erlebte. Alle außer mir wurden in die Pionierorganisation aufgenommen. Da ich die Klassenjüngste war, mußte ich noch ein halbes Jahr warten.
1937 wurde ich zwölf. Es war das letzte Jahr meiner Kindheit. Bei uns daheim sprach man offen über die jetzt erfolgenden Verhaftungen. Die Eltern erklärten mir, die Festgenommenen seien weder Faschisten noch Verräter. Später verstand ich, daß sie das taten, damit ich im Falle ihrer eigenen Arretierung nicht glauben sollte, sie seien solche.
Bald kam meine Cousine Ruth in unsere Familie. Wir beide hatten am 9. Januar Geburtstag. Sie war lediglich fünf Jahre jünger als ich. Im September 1937 war ihr Vater verhaftet worden, ein paar Wochen später auch ihre Mutter. Irgend jemand von unseren Bekannten brachte sie aus Leningrad nach Moskau. Ruth lebte fünf Jahre in unserer Familie. In der Schule sah ich jetzt öfter Kinder mit verweinten Augen. Auch viele unserer Lehrer wurden verhaftet. Uns erschien das Jahr 1938 wie der Weltuntergang. Dann wurde die deutsche Schule aufgelöst, wir kamen in verschiedene Lehranstalten.
Die Jahre 1937/1938 haben in meiner Seele tiefe Spuren hinterlassen. Fast alle unsere Verwandten – Kommunisten, die in der UdSSR lebten – wurden verhaftet. All das hat mich so tief berührt, daß ich nicht in den Komsomol eintreten wollte. Nach zehn Jahren sagte ich meinem Vater: ‚Jetzt habe ich verstanden, warum Du Kommunist bist, warum Du diesen Ideen treu bleibst. Die Ideen sind hervorragend, aber das, was wir erleben mußten, war schrecklich.‘ In das Gamalei-Institut für Mikrobiologie und Epidemiologie kam ich – und zwar im wörtlichen Sinne – direkt von der Straße. Dem Direktor erklärte ich, unbedingt Mikrobiologin sein und nur unter seiner Leitung arbeiten zu wollen. Er hat mich ungeachtet meiner Biographie, die mir viele Jahre Hindernisse in den Weg legte, aufgenommen. Im Institut gab es 500 wissenschaftliche Mitarbeiter – ich allein war nicht Arzt-Laborant, sondern arbeitete über sechs Jahre lang als einfache Laborantin. Im letzten Jahr meiner Tätigkeit bekam ich die Einstellung als Arzt-Laborant und damit eine wesentliche Erhöhung meines recht kärglichen Gehalts.
Die Wende in meinem Leben trat ein, als meine Mutter mit nur 46 Jahren starb. Im Januar 1957 haben mein Vater und ich Moskau verlassen. Wir wurden von vielen Leuten zum Zug begleitet. Ich war sehr traurig und schwermütig, hatte ich doch über ein Vierteljahrhundert unter sowjetischen Menschen gelebt. Dem Ersten Medizininstitut bin ich sehr dankbar, natürlich auch den ausgezeichneten Lehrern und meinen langjährigen treuen Freunden, von denen ein Teil schon lange tot ist. Wir haben unsere Moskauer Jahre niemals vergessen. Sie sind für immer in unseren Herzen geblieben.“
Die Mebels sind eine große und fest zusammenhaltende Familie. Zu ihr gehören die Tochter Annelie (Anja), der Schwiegersohn Jens, die Enkel Tino und Laura. Prof. Dr. med. habil. Sonja Mebel wurde eine hoch angesehene Mikrobiologin. Ich möchte ihr noch einmal das Wort geben.
„Wir haben in der DDR unsere Freunde gefunden, uns sehr gut gefühlt, viel gearbeitet und wahrscheinlich auch anderen Nutzen gebracht. Und das war das Wichtigste in unserem Leben. Wir wurden mit Anerkennung und Achtung belohnt.
Das Schlimmste geschah im Herbst 1989. Wir begriffen, daß unser Staat, unsere Republik zugrunde gehen würden. Was für eine schreckliche Zeit! Aber man mußte weiterleben, der Tochter, den Enkeln helfen. Zum Glück haben unsere Freunde weder sich noch uns verraten. Verrat ist immer Verrat, und der muß auch stets so genannt werden. Wir sind unseren Idealen treu geblieben und davon überzeugt, sie auch in der Familie der Tochter, bei den heranwachsenden Enkeln bewahren zu können.“
Übersetzung: Dr.-Ing. Peter Tichauer
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