Ein eindringliches französisches Geschichtsbuch
für friedliebende Europäer
„Elender Krieg“ von Tardi und Verney
Nachdem man in den Leitmedien 2014 noch ausführlich des 100 Jahre zurückliegenden Weltkriegsbeginns gedacht hatte und allenthalben Mahnungen zu gewaltfreien Konfliktlösungen verkündet worden waren, scheint die Friedensliebe der Meinungsmacher inzwischen merklich abgekühlt zu sein. Das Rechtfertigen und Beschönigen von Drohnenangriffen, Bombardements mit „Kollateralschäden“ oder Waffenexporten in Krisengebiete läuft wieder im „Hauptprogramm“. Der Zeichner Jacques Tardi und der Publizist Jean-Pierre Verney gehören zu denen, die sich gegen imperialistische Gewalt engagieren. Ihr meisterhaft gestaltetes Werk „Elender Krieg“ ist ein historisch stimmiger Blick auf die europäischen Schlachtfelder zwischen 1914 und 1918. Tardi und Verney haben nicht allein ein konsequent antimilitaristisches Werk geschaffen, sondern decken darin auch gesellschaftliche Ursachen und Folgen des Krieges auf. Sie nennen die Kriegstreiber und -gewinnler beim Namen. Den Liebhabern zeichnerisch realistischer Erzählkunst wird das Buch zur Entdeckung.
Zu Kriegsbeginn 1914 wird ein Rekrut aus der Pariser Rue de Panoyaux als Soldat in die Kämpfe beordert. Er beschließt die Geschehnisse beobachtend zu kommentieren und wird zum Kriegsberichterstatter aus ganz eigener Sicht. Und die ist von Anfang an kritisch distanziert – im Gegensatz zur Einstellung der meisten seiner Kameraden, die ihren Befehlshabern in Hurra-Patriotismus nacheifern. So beginnt die Chronik des zum Soldaten verpflichteten Pariser Arbeiters melancholisch-fatalistisch mit Szenen von Volksmassen im vaterländischen Taumel. Auffällig gleichen sie sich in Paris und Berlin. Die jungen Franzosen sind begeistert und rotbehost mit ihrer romantisch-traditionellen 1870er Montur ins Feld gezogen – „in Zirkuskostümen, in denen wir wunderbare Zielscheiben abgaben“ – und in totaler Verkennung der Tatsache, daß dies ein Krieg des neuen, des kapitalistischen Industrie- und Maschinenzeitalters war. Doch die Illusionen auch der berauschtesten Vaterlandsbefreier unter den Soldaten verlieren sich vollständig innerhalb der nächsten drei von insgesamt 93 bebilderten Seiten der „Graphic Novel“. Dies ist die gängige Bezeichnung einer jüngeren literarisch- bildkünstlerischen Gattung mit Ursprüngen sowohl in der klassischen Buchillustration als auch im anspruchsvollen Comic, in der Novelle und im Zeichentrickfilm-Drehbuch. In gleichmäßiger Dreier-Einteilung je Seite, auf kinoleinwand-ähnlichem Querformat, entwickeln die Bilder auf den Buchseiten ihre Dramatik, lenken die ihnen eingeschriebenen Kommentare des fiktiven Erzählers die Handlung. Die Gestalter von „Elender Krieg“ ersparen dem Betrachter nichts. Nicht die weggerissenen Gliedmaßen der Menschen und der Gäule, nicht den Anblick der sterbend im Stacheldraht Hängenden oder der im Schlamm bei Verdun Verreckten, nicht die letzten Augenblicke des „Defätisten“ vor dem Erschießungspeloton. So ist Krieg – elend!
Mit 1914, 1915, 1916, 1917 und 1918 sind die fünf Teile des vor den Augen des Betrachters abrollenden „Films“ betitelt. Der französische Arbeiter, gepreßt in den nunmehr blut- und dreckstarrenden Waffenrock, resümiert im Kriegsjahr 1917 seinen Widerwillen gegen alle völkischen Ideen. Er ist den Feinden und den Verbündeten begegnet, den Deutschen, Holländern, Briten, Italienern und US-Soldaten, darunter „Patrioten“ aus den jeweils unterjochten Kolonien beziehungsweise diskriminierten Schwarzamerikanern, und weiß: Sie alle erleiden den „elenden Krieg“ nicht für die Ehre dieses oder jenes Vaterlandes, sondern einzig für die Kriegsminister und die am Gemetzel Verdienenden.
Eine Notiz macht der Chronist über die russischen Verbündeten: „Sie bildeten Sowjets, also Räte, und ihre Offiziere hatten sie nicht mehr im Griff. Man zog sie deshalb von der Front ab und schickte sie in das Militärlager La Courtine im Departement Creuse. Ich als Arbeiter bei Biscorne, Rue des Panoyaux, wäre gern nach Moskau gegangen, um mir mal so eine Revolution anzusehen (…) Wir aber ließen uns zur Schlachtbank führen und sangen dazu noch die Internationale.“
Dem aufgezeichneten Erleben, vielmehr Erleiden des jungen Franzosen folgt ein sachlich-nüchterner Geschichtsabriß, illustriert mit Karten und zahlreichen Fotodokumenten sowie mit Zitaten der Kriegsherren, Kirchenmänner und Industriellen. Dieser sachkundliche Teil des Buches, analog wie die „Graphic Novel“ unterteilt und betitelt, nimmt ein Drittel des Umfanges ein. Die Buchgestalter legen damit ihre authentischen Quellen offen. Vielen der eingefügten Fotografien von der Front und anderen zeitgenössischen Darstellungen ist abzulesen, daß sie Tardi zu Vorlagen dienten, Verney zur erzählerischen Fabel inspirierten.
Und wenn dieser Tage wieder fromm bis aufdringlich das Fest des Friedens besungen wird, paßt dazu vielleicht ein antimilitaristisches Geschenk: Die Graphic Novel „Elender Krieg“. Sie eignet sich besonders zur Aufklärung Heranwachsender. Und nachdem der Leser das Buch zur Seite gelegt hat, wahrscheinlich ergriffen und erschüttert, mag der Gedanke an die Kriege der Gegenwart aufkommen. An die Bekenntnisse zum Beispiel des ehemaligen US-Militärangehörigen Brandon Bryant, der zum Whistleblower wurde, weil er den elenden Krieg psychisch nicht mehr aushielt und moralisch nicht mehr verantworten will. 2006 bis 2011 hatte Bryant als Spezialist für Drohnen-Sensoren auf Stützpunkten in Nevada und New Mexico sowie im Irak gedient und beim Führen unbemannter Flugkörper über Afghanistan und Irak mitgewirkt. Er feuerte nicht selbst, aber er weiß, daß allein bei den Einsätzen, an denen er beteiligt war, insgesamt 1626 Menschen getötet wurden. Die zerfetzten Körper sieht der Cyber-Krieger am „Joystick“ nicht, doch gleichen die Szenen nach den Treffern gewiß denen, die Tardi gezeichnet hat.
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