RotFuchs 202 – November 2014

Wie der Verlust der Heimat DDR meine Biographie geprägt hat

Emigrantin im eigenen Land

Martina Dost

Die DDR empfand ich immer als meine Heimat. Da war schon in meiner Jugend ein starkes Gefühl von Geborgenheit. Wie ich heute weiß, entstand es aus der Gewißheit: Ich werde meinen Platz im Leben finden.

Im Mai 1953 wurde ich geboren. Ich liebte dieses Land, vor allem Thüringen, weil meine Großeltern dort lebten und sich viele schöne Kindheits- und Jugenderlebnisse einprägten. Dazu gehörten die Wälder, meine Ferienarbeit im LPG-Kuhstall, die Tiere der Großeltern, das Malen-Lernen und die Freiheit, sich ohne Angst auf endlosen Wanderungen in einsamen Wäldern herumzutreiben und in Waldteichen zu schwimmen. Ebenso gern kehrte ich nach Berlin zurück, wo ich aufwuchs und bis 2002 lebte. Das war das Kontrastprogramm – die netten Geschäftsstraßen bei angeblicher Mangelwirtschaft mit Stoffläden und Buchhandlungen, die Kinos um die Ecke, gute Filme, Veranstaltungen im Palast der Republik, Ausstellungen und Theater, die ich mit Schulfreundinnen oder den Eltern besuchte. Meine Familie wohnte in Köpenick, dicht an Seen, Feldern und Wäldern, von denen ich das Gefühl hatte, sie gehörten auch mir. So war es ja auch – Volkseigentum oder Genossenschaften.

Hinzu kam, daß ich gern zur Schule ging, mich mein Studium der Volkswirtschaft brennend interessierte. Zuvor saß ich als Lehrling eines Konfektionsbetriebes in drei Schichten am Band, arbeitete dann als Ökonomin, später als Wirtschaftsjournalistin beim Rundfunk. Es gab bisweilen auch Arbeitsstellen, auf denen ich mich unterfordert fühlte oder langweilte. Das lag nicht an der „SED-Diktatur“, sondern eher an persönlichen Eigenschaften von Leitern. Die Praxis war nicht immer so, wie sie theoretisch hätte sein sollen. Da mein Vater stellvertretender Minister war, bekam ich einiges von strategischen Fehlentscheidungen in der Wirtschaft mit.

Doch das Studium des „Kapitals“ und anderer Werke der Klassiker hatte großen Einfluß auf mich und meine Weltanschauung.

Die Berufstätigkeit sicherte mein eigenes Einkommen und damit Unabhängigkeit vom Partner. Zumeist war ich alleinerziehend mit meiner Tochter, die geboren wurde, als ich 25 Jahre alt war. Es gab Jahre, in denen ich mit dem Gedanken spielte, nur halbtags zu arbeiten. Aber meine Tätigkeit wäre dann weniger interessant gewesen. Und es gab ja die Großeltern, die einsprangen.

Der Alltag war manchmal hart, ich kam abgespannt nach Hause. Aber ich wusch und bügelte niemals meine große Wäsche, das Dienstleistungskombinat war um die Ecke, ebenso Kindergarten und Schule, Poliklinik, Post, Kaufhalle, das Studio „Bildende Kunst“ mit meinem Zeichenzirkel, Kinos. Ich schaffte es immer, an den Wochenenden mit meiner Tochter etwas Kindgemäßes zu unternehmen, schwimmen oder wandern oder in die Pilze zu gehen, zu malen und was Gutes zu kochen. Ich hatte viel innere Ruhe für meine Interessen. Welche Alleinerziehende kann heute zweimal im Jahr mit ihrem Kind in Urlaub fahren? Es gab für mich keine Sorgen, die gesellschaftlich bedingt gewesen wären.

Nach der „Wende“ wurde ich bald arbeitslos. So geriet ich in den für Millionen frühere DDR-Bürger üblichen Teufelskreis zwischen unzähligen berufsfremden Bewerbungen, miesen Umschulungen und sinnfreien ABM-Stellen, die mit Hilfe der Arbeitsämter nur dem „Träger“ Profit brachten.

Lange war mir nicht klar, daß ich mit 38 bereits das „Verfallsdatum“ einer Frau im Kapitalismus erreicht hatte. Ich erfuhr den schlimmsten Verlust eines sinnerfüllten Lebens schon in jungen Jahren. Die extreme psychische Belastung der Langzeitarbeitslosen wird gesellschaftlich kaum zur Kenntnis genommen. Statt nützlicher Arbeit und Solidarität lernte ich soziale Isolierung kennen.

Die transparenten, von Humanismus geprägten Gesetze der DDR wichen einer „Sozial“-gesetzgebung, die der Willkür der Beamten in den „Job“-Centern und sonstigen „sozialen“ Ämtern Tür und Tor öffnet. Arbeitslose dürfen keine anerkannten Abschlüsse an staatlichen Hoch- oder Fachschulen anstreben, sonst entfällt die Unterstützung. Arbeitsämter erlauben „Ortsabwesenheit“ oder auch nicht, sie bestimmen Wohnungsgrößen, legen möglichst viele Steine in den Weg. Nur eins haben sie in über 20 Jahren nie getan: mir eine Arbeit anzubieten.

Erstaunlich, wie anpassungsfähig viele gewendete DDR-Bürger in den Ämtern waren. „Wir setzen nur um!“ beschied mir unsere neue „Sozial“amtschefin im Landratsamt Seelow, als ich mich 2013 über die drei Jahre zuvor erfolgte Kürzung der Unterkunftszuschüsse für Hartz-IV- und Wohngeldempfänger beschwerte.

Hinzu kam der Verlust der Heimat DDR. Besonders in den ersten Jahren nach dem Anschluß kam ich mir wie eine Emigrantin im eigenen Land vor. Auch jetzt fühle ich mich nur noch in meiner Wohnung, die mir zugleich als Atelier dient, und meinem kleinen Garten zu Hause. Der Adel hat „seine“ Felder, Wälder, Seen und Herrensitze „zurückbekommen“, die LPGs sind aufgelöst, statt florierender Landwirtschaft Monokultur, Umweltzerstörung, Artensterben, Armut, wenige Reiche, kaum Kinder, keine Jugend, nur eine Handvoll Ärzte, kein Kino, keine Dorfläden.

Meine Tochter, heute 35, hatte mehr Glück. Sie arbeitet als Soziologin und Erzieherin in einem Berliner Kinderheim.

Die „Demokratie“ der BRD spülte eine sich selbst bereichernde, über dem Volk stehende inkompetente Politikerkaste nach oben – überdies auch noch mit Kriegstreibern an der Spitze. Im Vergleich mit ihr war unser doch recht bemoostes Politbüro geradezu eine Ausgeburt an Kompetenz. Vor allem aber ging es in der DDR – bei all ihren Defiziten – um ein besseres Leben und den Frieden. Sie vermittelte humanistische Werte und eine wissenschaftliche Weltanschauung. Wir haben sie leider nicht lebendig und überzeugend genug verbreitet. Für die nach uns Gekommenen ist und wird es schwerer, sich marxistische Kenntnisse anzueignen.

Ich gehöre in der Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde – der GBM – zu einem Arbeitskreis, der sich auf die Bewahrung von DDR-Kunst konzentriert. Das ist ein Betätigungsfeld, an dem ich Freude habe.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Länder Europas hat uns auf dem Weg zu einer menschenwürdigen Gesellschaft mindestens um Jahrzehnte zurückgeworfen. Doch wir haben wenigstens erfahren, daß es sie geben kann.

Die Langfassung dieses Artikels erschien in der Zeitschrift „Theorie und Praxis“, September 2014