Erinnern an Auschwitz
Zwei schlimme Kindheitserlebnisse haben sich mir für immer eingeprägt. Das erste trug sich 1943 in der Riesengebirgsstadt Hirschberg – heute Jelenia Góra – zu. Ich hatte erst wenige Monate das Gymnasium besucht, als man mir eine von Erziehungsberechtigten zu unterschreibende „rassische Unbedenklichkeitsbescheinigung“ vorlegte. Dort wurde bereits nach „Mischlingen 2. Grades“ gefragt. Dieser faschistischen Kategorisierung zufolge galt ich als „Vierteljude“, da mein Großvater väterlicherseits einer jüdischen Familie in Böhmen entstammte. So mußte ich sofort die Schule verlassen.
Das zweite Erlebnis war damit nicht zu vergleichen. Im Sommer 1945 erkundigte sich mein Vater bei einer Institution mit der Bezeichnung JOINT, die über sämtliche von der SS geführten Sterbelisten aus den Konzentrationslagern verfügte, nach dem Schicksal von 15 Verwandten. Diese hatten in Eger (Cheb) gelebt und waren zunächst nach Theresienstadt deportiert worden. Sie seien ohne Ausnahme in Auschwitz ums Leben gekommen, wurde unter Angabe der jeweiligen Todesdaten mitgeteilt. Die Opferlisten in Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und in der Prager Synagoge vermerken ihre Namen.
Leider ist all das nicht nur Geschichte: Die faschistische Wahnsinnsideologie, welche zur Ausrottung von Millionen Menschen aus politischen oder ethnischen Gründen geführt hat, ist nicht mit den Nazis untergegangen. Unter Bedingungen einer sich weiter zuspitzenden sozialen Konfrontation verzichten die Exekuteure der Macht des Kapitals, die sonst eine gefälligere Kosmetik bevorzugen, auf die demokratische Maske. Sie greifen immer öfter zu Instrumentarien der Faschisierung. Gebietet man dieser Entwicklung nicht Einhalt, dann mündet sie im offenen Faschismus. Jene, welche unablässig den Popanz einer imaginären „roten Gefahr“ bemühen, wollen nur von einer sehr realen Bedrohung ablenken: In Deutschland nennt man sie die braune Gefahr.
Dabei fehlt es nicht an Versuchen, die Öffentlichkeit durch makabre Inszenierungen irrezuführen. So soll die sich qualvoll hinschleppende Münchener Justiz-Farce die Illusion angeblich entschlossener bundesdeutscher Verfolgungswut gegenüber Naziumtrieben nähren. Zugleich wird die Legalität der in mehreren Landtagen etablierten faschistischen NPD nicht angetastet. Und diese Formation stellt ja auch nur die Spitze des Eisbergs dar. Faschisten und Faschisierer besitzen längst in bürgerlichen Parteien und staatlichen Institutionen eine Heimstatt. Wie weit die rechtsradikale Unterwanderung geht, zeigt die jüngste Verquickung von BRD-Geheimdienstlern mit der bundesdeutschen Naziszene.
Als Gipfel der Heuchelei erweist sich der empörte Aufschrei von Merkel & Co über die „Ausspähung selbst intimster Sphären dieses Landes“ durch Dienste der USA. Haltet den Dieb! heißt die Parole. Wer im Glashaus sitzt, sollte aber nicht mit Steinen werfen. Wiegt sich denn irgend jemand in der naiven Vorstellung, das aus Pullach in den gigantischen Berliner BND-Komplex übersiedelnde Personal sei nicht mit genau dem befaßt, was den Verbündeten aus Washington und London zum Vorwurf gemacht wird?
Die unkontrollierbare Allmacht der Recht und Gesetz mit Füßen tretenden NATO-Geheimdienste ist ein wesentlicher Faktor der fortschreitenden innenpolitischen Faschisierung. Europas Rechtsradikale reizen die ihnen gewährte Legalität im Übermaß aus. Unmaskierte Faschisten machen sich längst in den Parlamenten Frankreichs und Italiens breit. Marine Le Pens Front National kann sich nach jüngsten Umfragen auf nahezu ein Fünftel der französischen Wähler stützen. Zur Regierungskoalition des als Krimineller verurteilten italienischen Ex-Premiers Berlusconi gehörte bekanntlich auch die Nachfolgepartei der Faschisten Mussolinis – Finis aus Getreuen des Duce rekrutierte MSI. Diese Tatsache hat im Brüsseler EU-Hauptquartier keinen Anstoß erregt. Die in der Horthy-Tradition stehenden ungarischen Faschisierer Orbáns durften sogar ein halbes Jahr lang im Europa der Monopole den Taktstock schwingen. In Griechenland schreckte die Partei von Premier Samaras nicht einmal davor zurück, sämtliche hellenischen Staatssender auf einen Schlag mundtot zu machen. Man könnte den Blick auch auf Ankara richten, wo der islamistische Faschisierer Erdogan den türkischen Unterdrückungsapparat mit äußerster Brutalität gegen die mutig aufbegehrenden Frauen und Männer vom Taksimplatz losschlagen ließ. Der regierungsoffizielle Terror zielt ganz besonders auch auf die Genossen der mutigen TKP.
Schließlich sollte man Israel bei dieser Betrachtung nicht aus dem Auge verlieren. Dessen zum Teil faschistoide Machthaber bestücken nicht nur die aus BRD-Waffenschmieden gelieferten U-Boote mit Atomraketen, sondern folgen in ihrem rassistischen Vorgehen gegen die Palästinenser Gazas und des Westjordanlandes auch der Spur jener Ideologie, welche einst den Holocaust hervorbrachte.
Um den Kreis zu schließen: Was meiner väterlichen Verwandtschaft unter der Schreckensherrschaft der Nazis widerfuhr, wurzelt keineswegs im „deutschen Wesen“, sondern in dem mal mit, mal ohne Maske auftretenden kapitalistischen System. Der faschistischen Bedrohung überall den Kampf anzusagen und Barrikaden des Massenwiderstandes gegen sie zu errichten, ist das Gebot der Stunde.
Nachricht 1919 von 2043