Vasco Gonçalves führte vier aufeinanderfolgende Regierungen
Erinnern an Portugals „roten General“
Im Sommer 1974 – Monate vor meiner Akkreditierung als ständiger Lissabonner Korrespondent des ND – logierte ich einige Wochen im innerstädtischen Hotel „Diplomático“. Dessen Personal schien mir – von Ausnahmen abgesehen – den Ideen der Aprilrevolution nicht gerade nahezustehen. Der antifaschistische Militäraufstand, dem Teile der Arbeiterschaft unter Führung der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) unverzüglich zu Hilfe gekommen waren, schien an den Portiers, Kellnern, Köchen und Zimmermädchen vorübergegangen zu sein.
Aber eines Tages sollte ich eine Überraschung erleben. Gäste hin, Gäste her – die Damen am Empfangstresen, der Mann an der Tür und alle anderen Beschäftigten schienen wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Bald schon entdeckte ich sie an anderer Stelle. Alles drängte sich vor einem Fernsehgerät in der Eingangshalle zusammen. Der Reporter berichtete von einer Begegnung des gerade erst zum Ministerpräsidenten der 2. Provisorischen Regierung ernannten Obersten (und späteren Generals) Vasco Gonçalves mit Einwohnern des nahegelegenen Ortes Buçaco.
Hierzu bedarf es einer kurzen Erklärung: Nach dem Aufstand vom 25. April, der die bereits 1926 durch Salazar errichtete und dann von Caetano fortgesetzte faschistische Diktatur im NATO-Staat Portugal hinweggefegt hatte, waren die politisch unerfahrenen jungen Hauptleute der Bewegung der Streitkräfte (MFA) außerstande gewesen, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Sie hatten dem monokeltragenden General António de Spínola vorerst die Präsidentschaft der Republik überlassen. Dieser berief eine 1. Provisorische Regierung unter dem Magnaten Palma Carlos. Aufgrund des Kräfteverhältnisses war Spínola dazu gezwungen, auch PCP-Generalsekretär Álvaro Cunhal als Minister ohne Geschäftsbereich in das Kabinett einzubeziehen.
Doch zurück in die Lobby des „Diplomático“. Dort schien alles aus dem Häuschen geraten zu sein. Immer wieder brachen die befrackten Ober und die weißgeschürzten Zimmerfrauen in Beifallsstürme aus. Leute, die mir zuvor äußerst zurückhaltend erschienen waren, debattierten leidenschaftlich und überschlugen sich in Begeisterung für einen hageren Mann auf dem Bildschirm. Sie erlebten ihren neuen Premier bei dessen erstem öffentlichem Auftritt. Der war kein Redner im üblichen Sinne, sondern führte mit der Menge eher ein „vertrauliches Gespräch“. In der Halle des „Diplomático“ war man sich einig: Dieser warmherzige und volksnahe Mann verdiene jede Unterstützung.
Was ich an jenem Tag in dem mir bis dahin zumindest indifferent erschienenen Umfeld erlebte, war für die Massenstimmung in den entwickelteren Landesteilen Portugals charakteristisch. So sagte mir in der Chemiearbeiterstadt Barreiro – einer traditionellen Hochburg der Kommunisten – damals eine ältere Frau: „Ich nehme sonst nicht an Wallfahrten nach Fátima teil. Doch wenn Vasco dort wäre, würde ich sogar zur Pilgerin.“
Um so verblüffender war es, in welchem Tempo die von den ausländischen Todfeinden der Portugiesischen Revolution – vor allem den Stäben der meisten BRD-Parteien – in Windeseile aufgebaute und massiv finanzierte 5. Kolonne des Imperialismus die Atmosphäre vergiftete. Enorme Mittel wurden aufgewandt, um dem populären Staatsmann das Wasser abzugraben. Als sich Vasco Gonçalves, über dessen genauen politischen Standort in den Medien des In- und Auslands zunächst nur Vermutungen angestellt wurden, als Wegbereiter einer bürgerlich-demokratischen Revolution mit sozialistischer Perspektive zu erkennen gab, setzte noch am selben Tag die Rufmordkampagne ein. Es ging um die moralische Vernichtung eines lauteren und unbestechlichen Politikers.
Mit welchen Mitteln und Methoden die Sympathien für den Sohn des einstigen Mannschaftskapitäns von Benfica Lissabon untergraben wurden, ist kaum zu beschreiben. Der durch Salazars und Caetanos Kolonialkriege in Afrika sehend gewordene stellvertretende Chef der Pioniertruppen hatte als ranghöchstes Mitglied der die Erhebung am 25. April vorbereitenden Koordinierungskommission der Bewegung der Streitkräfte eine herausragende Rolle gespielt. Auf Geheiß der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, wo die Sozialistische Partei des Mário Soares erst 1973 neu gegründet worden war, wurde zum großen Halali gegen Portugals Ministerpräsidenten geblasen. Der Pseudosozialist Soares, der sich des Symbols der geballten Faust bediente und die Internationale als Parteihymne mißbrauchte, gab die Parole „Tod dem Gonçalvismus!“ aus.
Obwohl der klassenbewußte Teil des portugiesischen Industrie- und Agrarproletariats, die Militärische Linke innerhalb der heterogenen MFA und nicht wenige fortschrittliche Intellektuelle weiter zu Vasco Gonçalvis hielten, gelang es der Konterrevolution, im Frühherbst 1975 die von ihm geführte 5. Provisorische Regierung zu Fall zu bringen.
Für den Klassenhaß der Ausbeuter gab es gute Gründe: Unter Gonçalves waren sämtliche inländischen Konzerne, Banken und Versicherungen nationalisiert sowie 1,3 Millionen Hektar Gutsbesitzerland im Alentejo nach dessen schlagartiger Besetzung durch das Agrarproletariat in 550 ausbeutungsfreie Kollektive Produktionseinheiten (UCP) umgewandelt worden.
Schon im Frühsommer 1974, als ich in einem verläßlich abgesicherten Quartier mit PCP-Generalsekretär Álvaro Cunhal mehrere Stunden unter vier Augen sprechen konnte, ging es auch um den damals amtierenden Präsidenten Spínola und den durch ihn attackierten Premier Gonçalves. Spätestens im Herbst werde der Monokel-General gegen das Gonçalves-Kabinett putschen, meinte Genosse Cunhal. Es bestehe aber kaum ein Zweifel daran, daß dann nicht der Premier, zu dem die Kommunisten trotz gelegentlicher taktischer Meinungsunterschiede volles Vertrauen hätten, sondern Spínola fallen werde. Genauso ist es am 28. September dann auch gekommen.
Obwohl ich zu den Bewunderern des couragierten Mannes an der portugiesischen Regierungsspitze gehörte, war ich ihm persönlich noch nie begegnet. Das sollte erst im Frühjahr 1979 geschehen und war einem Zufall geschuldet. Zu jener Zeit hielt sich ein DDR-Kameramann, von dem es hieß, er betreibe zugleich eine Firma in der Schweiz, längere Zeit in Lissabon auf, um – wie verlautete – bei der PCP auf eigene Initiative ein Filmarchiv einzurichten. Er kam bisweilen auf recht sonderbare Ideen. So ließ er z. B. am 8. März erst vor seinem Hotel und danach am Haus des ZK der Partei einen Kleinlaster voller Blumensträuße vorfahren, um sämtliche die Gebäude betretenden oder verlassenden Frauen zu beschenken.
Über solche Kuriositäten im Bilde, erfuhr ich eines Tages, daß sich der kulante Spender auch bei General Vasco Gonçalves angemeldet hatte, um ihm ein Filmvorführgerät zu überreichen. Einen möglichen Eklat nicht ausschließend, fragte ich den „Mäzen“, ob ihm meine Begleitung bei dieser Visite angenehm sei, was er bejahte.
Als wir die Lissabonner Stadtwohnung der Familie Gonçalves in der Avenida dos Estados Unidos betraten, ahnte ich nicht, daß diese Stunde der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft mit dem „Architekten der Aprilrevolution“ sein würde. Oft so bezeichnet, lehnte Vasco diesen Begriff übrigens ab. Auch dadurch erwies er sich als ein Mensch, bei dem Größe und Schlichtheit zusammenfielen.
Schon in der folgenden Woche besuchten uns der General und dessen Frau Aida am Platz bei der Stierkampfarena Campo Pequeno, wo wir wohnten.
Nachdem wir im Hochsommer 1979 in die DDR zurückgekehrt waren, riß der Kontakt nicht ab. Wir blieben durch eine intensive Korrespondenz in freundschaftlicher Verbindung. Etwa 120 von Vasco handschriftlich verfaßte Briefe zu einer großen Themenpalette zählen zu den Kostbarkeiten meines Lebens.
Schon bald konnten wir uns auch persönlich wieder in die Arme schließen.
Als stellvertretender Vorsitzender der später von mir geleiteten Freundschaftsgesellschaft DDR-Portugal durfte ich Vasco Gonçalves und dessen Frau wiederholt zu ausgedehnten Informationsreisen in unser Land einladen. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Gesellschaft Portugal-DDR – dem berühmten Musikologen und ehemaligen Staatssekretär für Kultur der Gonçalves-Regierung Prof. Joâo de Freitas Branco – durchquerten wir fast die gesamte Republik. Übrigens hielt Vasco an einem DDR-Geburtstag der 80er Jahre in Erfurts Thüringenhalle eine begeisternde Rede. Unvergessen bleibt mir auch ein gemeinsamer Besuch der Mühlhausener LPG „Thomas Münzer“. Während der Besichtigung des Geländes stoppte die kleine Gruppe plötzlich. Trompetenstöße unter freiem Himmel kündeten Feierliches an. Der promovierte Vorsitzende dieser bahnbrechenden Genossenschaft erinnerte an historisches Geschehen: „An dieser Stelle ist Thomas Münzer 1525 hingerichtet worden“, sagte er und bat Vasco, dort eine Blutbuche zu pflanzen. Der portugiesische Revolutionär widmete diesen Baum dem Andenken des großen deutschen Bauernführers und allen für eine ausbeutungsfreie Welt kämpfenden Menschen.
Anfang Mai 1988 – nur Wochen nach dem Tod meiner erst 43jährig verstorbenen Frau Rosi – erhielt ich Post aus Lissabon. Vasco lud mich und zwei meiner Kinder zu einem vierwöchigen Erholungsaufenthalt in sein Haus nach Cascais ein. Das ND stellte mich frei. Meine Tochter Susanne, die damals eine Kindergärtnerinnen-Fachschule besuchte, und mein achtjähriger Sohn Stefan wurden durch die zuständigen Behörden vom Unterricht beurlaubt.
Auf dem Lissabonner Flughafen Portela holte uns Vasco mit dem Wagen ab. Der darauf folgende Monat verlief teils ruhig, teils stürmisch. Die Familie Gonçalves und deren Freunde sorgten rührend für alles. Während wir die Vormittage stets gemeinsam mit Vasco am Atlantikstrand verbrachten, war die zweite Tageshälfte einer Vielzahl von Begegnungen mit interessanten Gesprächspartnern wie dem Nobelpreisträger für Literatur José Saramago und dem legendären Admiral Rosa Coutinho vorbehalten. Dieser aufrechte Antifaschist – einer der Redlichsten unter den Redlichen – war nach dem 25. April 1974 zunächst Portugals Hoher Kommissar in Angola gewesen, wo er der damals revolutionären Befreiungsbewegung MPLA den Weg zur Macht bahnen half.
Ein ganz besonderes Erlebnis in dem durch Diplomingenieur Vasco Gonçalves entworfenen Haus soll hier nicht unerwähnt bleiben. Beim Stöbern in der Bibliothek des Gastgebers stieß ich auf eine französischsprachige Ausgabe der Werke Lenins aus dem Jahre 1948. Allein die Tatsache, daß Vasco solche Literatur sein eigen nannte, erweckte mein besonderes Interesse. Als ich in einigen der broschierten Bände blätterte, stieß ich auf etliche Anmerkungen von der Hand des Besitzers. Hatte ich Vasco schon zuvor für einen gebildeten Marxisten gehalten, so wurden mir nun auch die Quellen seines Wissens offenbart.
Später haben meine Frau Bruni und ich noch so manches Mal in der Lissabonner Wohnung der Familie Gonçalves mit Vasco über eine Vielzahl von Themen debattiert. Wiederholt begegneten wir uns auf den von Hunderttausenden – überwiegend Arbeitern und jungen Leuten – besuchten Pressefesten des PCP-Organs „Avante!“, die seit 1975 stets am ersten Septemberwochenende stattfinden. Auch mein Sohn Peter – heute ein engagierter Journalist der linken Tageszeitung „junge Welt“ – sah Vasco, den er als Zehnjähriger erlebt hatte, auf der Quinta de Atalaia bei Seixal wieder.
Am 3. Mai 2005 rief ich meinen inzwischen hochbetagten Freund an, um ihm zu seinem Geburtstag zu gratulieren. Am 5. Mai griff Vasco zur Feder, um uns einen bewegenden Brief zu schreiben. Weder er noch wir konnten zu dieser Stunde ahnen, daß es die letzten Zeilen von seiner Hand sein würden.
„Uns gefällt es, wie Ihr weiter aktiv und fest zu den Idealen steht, die von der deutschen Bourgeoisie so bekämpft werden; wie die Flamme der DDR am Leben erhalten wird … und wie der ,RotFuchs‘ seine Arbeit zur Aufklärung und Mobilisierung des Willens, die Situation zu begreifen, leistet“, schrieb Vasco. Und er fuhr fort: „Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, für die Bewußtseinsbildung … und Verfügbarkeit der Menschen im Kampf um die Verteidigung ihrer legitimen Interessen zu wirken. Immer gibt es solidarisch Handelnde, wenn derzeit auch in kleiner Zahl.“ Vasco schloß: „Wir verabschieden uns mit dem Wunsch, einander auf dem ,Avante!‘-Fest wiederzusehen.“
Dazu ist es nicht mehr gekommen. Am 11. Juni 2005 starb der bedeutende Portugiese nach einem Bad im Swimmingpool seines Feriendomizils.
Zwei Tage danach schrieb Álvaro Cunhal der Witwe seines engen Freundes und Kampfgefährten einen Kondolenzbrief. Das erschöpfte die letzten Kräfte des über Neunzigjährigen. Nur Stunden später befand sich auch er, den Vascos Tod im Innersten getroffen hatte, nicht mehr unter den Lebenden.
Für die beiden großen Männer der Portugiesischen Revolution wurden getrennte Staatsbegräbnisse angeordnet. Mehr als 250 000 Trauernde begleiteten Álvaro Cunhal auf dessen letztem Weg. Dem Testament entsprechend wurde seine Asche auf dem Gelände des Friedhofs verstreut.
Hunderte den Idealen des April treu gebliebene aktive oder bereits in den Ruhestand versetzte Offiziere jener Armee, deren bester Teil sich im Frühjahr 1974 gegen die Faschisten erhoben hatte, erwiesen ihrem General Vasco Gonçalves die letzte Ehre. Gemeinsam mit Industrie- und Landarbeitern aus ganz Portugal überschütteten sie seinen Sarg mit roten Nelken.
Auf dem „Avante!“-Fest 2005 bewegten uns die Worte des PCP-Generalsekretärs Jerónimo de Sousa. Der einstige Führer der Metallarbeitergewerkschaft entbot Álvaro und Vasco im selben Atemzug vor Zehntausenden Teilnehmern des Abschlußmeetings einen letzten revolutionären Gruß.
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