Erinnern contra „Erinnerungsschlacht“
Es ist zur – verordneten – Regel geworden, daß staatliche Organe darüber zu bestimmen haben, welcher historischen Ereignisse wie gedacht werden soll. Unter der Regentschaft Joachim Gaucks ist dieser Brauch zur Perfektion gediehen. 2014 stehen der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges und der 25. Jahrestag des Beginns der Konterrevolution in der DDR – des Sieges der imperialistischen BRD über die sozialistische DDR – auf dem Gedenkkalender. Sachsen beteiligt sich nicht nur an dieser „Erinnerungsschlacht“, sondern übernimmt dabei schon seit Jahren auch die Vorreiterrolle.
Am 6. Mai hat sich Bundespräsident Gauck das „Grundsatzpapier“ einer 19köpfigen „Expertengruppe“ überreichen lassen, deren Leiter der Historiker Dr. Herbert Wagner ist. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die zum gleichen Zeitpunkt durch Gauck in Prag vorgetragene Behauptung, für Sachsen (und Tschechen) seien Freiheit und Demokratie erst im Herbst 1989 angebrochen. Die These ist ein alter Hut: Im Gegensatz zu den an der Realität geprüften Erkenntnissen des seriösen Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Charakter des Tages der Befreiung, die er am 8. Mai 1995 öffentlich machte, hatte Sachsens seinerzeitiger Ministerpräsident Milbradt zehn Jahre später behauptet, das Land sei 1945 „von einer Diktatur in die nächste gefallen“. Diese Propagandalüge steht im Einklang mit der sächsischen Verfassung, welche „die Gleichheit der deutschen Diktaturen“ unterstellt. Wer aber die Befreiung Sachsens durch sowjetische und polnische Streitkräfte der Antihitlerkoalition leugnet, auf den trifft das auch im Deutschen Bundestag nicht grundlos zitierte Wort zu, das Bertolt Brecht seinem „Galilei“ in den Mund legte: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“ Milbradt, der jetzige Ministerpräsident Tillich und andere haben die Möglichkeit, jederzeit der historischen Wahrheit nachzuspüren.
Am 26. Mai 2014 präsentierte der Autorenkreis „Lausitzer Almanach“ im vollbesetzten Kamenzer Lessing-Theater sein Buch über das Kriegsende 1945 in Ostsachsen. Es ist bereits der 10. Almanach dieses rührigen Gremiums, dem überwiegend Laienhistoriker angehören. Diesmal erschien er bereits ein volles Jahr vor dem 70. Jahrestag der Befreiung. So kann der Meinungsstreit gefördert, können Gerüchte widerlegt und verläßliche Urteile aus solider Faktenkenntnis gefällt werden. Was bietet der jüngste Almanach seinen Lesern?
Herausgeber Dieter Rostowski schildert exakt den Ablauf der seinerzeitigen Kampfhandlungen nach heutigem Kenntnisstand. Es folgt eine in die Tiefe gehende Studie zur verbrecherischen Kriegführung hitlerfaschistischer Militärs. Zeitzeugenberichte schließen sich an, aus denen man erfährt, wie Bewohner vieler Orte der Lausitz die Agonie der faschistischen Schreckensherrschaft erlebten. Im Frühjahr 1945 kamen Soldaten beider Seiten, aber auch Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, Frauen und Kinder ums Leben. Ein Panorama des Schreckens!
Es wäre wünschenswert, daß Sachsens maßgebliche Politiker den Almanach zur Kenntnis nähmen, bevor sie sich 2015 zum Thema Befreiung äußern.
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