Erinnerung an Käthe Kollwitz (1867–1945)
Von den deutschen bildenden Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts haben nur wenige Weltgeltung erlangt, kein zweiter jedoch in dem Umfang und mit der Tiefe wie Käthe Kollwitz. Und dabei erwirbt sich ihr Werk von Jahr zu Jahr noch immer neue Bewunderer, Nacheiferer, Sammler und Deuter.
Die Menschen, zu denen Käthe Kollwitz vornehmlich spricht, sind heute überall auf dem Erdball stärker denn je zuvor und melden ihre kulturellen Forderungen unabweisbar an. Je mehr die Macht des Friedens und des Fortschritts wächst, desto größer werden der Ruf und der Einfluß dieser von Kaiser Wilhelm und den Faschisten gehaßten Künstlerin. Im deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat wird sie als Vorbild und Wegbereiterin verehrt, und auch in der Sowjetunion haben viele Grafiker von ihr gelernt. Die italienischen und die französischen Realisten wenden sich ihr zu. In Asien hat sie bei den für soziale und nationale Befreiung Engagierten Schule gemacht, desgleichen in Kuba, Mexiko und Argentinien.
Für diese außerordentliche Wirkung sollte es eine außerordentliche Ursache geben. Damit, daß Käthe Kollwitz die selbstgewählte Verpflichtung, „Anwalt zu sein“ und „das Leid der Menschen“ auszudrücken, erfüllt hat, scheint noch nicht alles erklärt zu sein. Auch das so oft mißbrauchte Wort „Genialität“ besagt nicht viel. Andere geniale Künstler der Epoche, vor allem in Rußland, Frankreich und Belgien, schufen in gleichem Geist und erreichten doch nicht diesen Grad der Popularität, nicht diese Dauer und Reichweite der Ausstrahlungskraft. Man darf also vermuten, daß Käthe Kollwitz den meisten zeitgenössischen Künstlern etwas voraus hatte. Romain Rolland erfaßte dieses „Etwas“ intuitiv, indem er in ihr, der Frau und Mutter, ein „männliches Herz“ entdeckte. Sie besaß es von Jugend an, und es bewahrte sie davor, in naturalistischer Elendsmalerei und pseudosozialistischen Sentimentalitäten steckenzubleiben. In ihren Lehrjahren zog sie, wie es in ihrem „Rückblick“ heißt, „in sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden zur Darstellung des proletarischen Lebens“. Sie zeichnete in ihrer Vaterstadt die Ausgebeuteten, die Königsberger Lastenträger und polnischen Schiffer, weil sie sie „einfach als schön“ empfand. „Ohne jeden Reiz“ war ihr die bürgerliche Gesellschaft. „Dagegen einen großen Wurf hatte das Proletariat.“
Die ästhetische Wahrnehmung dieses „großen Wurfes“ stellt Käthe Kollwitz über die schätzbarsten Beispiele des kritischen Realismus. Ihr „männliches Herz“ ergriff auf einer höheren Ebene Partei als alle diejenigen, die sich darauf beschränkten, die Armut zu schildern und zu beklagen. Von Zolas „Das Schöne ist das Häßliche“ ausgehend und es überwindend, erblickte sie ein neues, ein aus dem Seelen- und Bewußtseinsgrund der Arbeiterklasse emporgehobenes Schönheitsideal und rang um eine Ausprägung. Es war – die Verhältnisse ließen nichts anderes zu – ein tragisches, bisweilen düsteres Schönheitsideal. Manche Kollwitz-Zeichnungen erinnern an Frauen der griechischen Tragödie, an die Troerinnen des Euripides, an die Antigone des Demokraten Sophokles.
Selbstverständlich war Käthe Kollwitz’ bestimmendes Anliegen die Gestaltung der ihr vertrauten Menschen, an deren Not sie innig Anteil nahm. Aber sie setzte ihr Menschenbild in den nicht abreißenden Strom der Menschheitstradition. Immer, in ihren Zyklen aus der Geschichte der Klassenkämpfe und ihren Gegenwartsblättern, werden wir als den letztendlichen Antrieb ihres Schaffens den realen Humanismus erkennen, der als ein dialektisches Kontinuum von Sehnsucht und Verwirklichung aus den ältesten Zeiten auf uns gekommen ist. Und eben darin verbirgt sich das Geheimnis der unaufhörlichen Modernität der Künstlerin. Die Grabschrift eines Dichters abwandelnd, könnte man auf ihren Denkmalssockel schreiben: Sie suchte Aktualität und fand Unsterblichkeit.
Von Käthe Kollwitz’ 60. Geburtstag berichtete das liberale „Berliner Tageblatt“, es sei ihr „eine Ehrung eigener Art“ gewesen, daß sie an diesem Tage aus den Kreisen der arbeitenden Jugend viele Briefe empfing, die sich spontan zu ihrem Werk bekannten. Heute werden es Millionen in Dutzenden von Ländern sein, die der Schöpferin und Kämpferin gedenken, deren Wesen eine wundervolle Synthese aus Weichheit und Härte, aus Mütterlichkeit und Kühnheit, aus Genie und praktischer Tatbereitschaft war.
Aus „Sonntag“
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