Erlebte Geschichte:
Berufsverbot in der Alt-BRD
Am 28. Januar 1972, vor 45 Jahren, erließen die Ministerpräsidenten der Bundesländer in Abstimmung mit Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) den sogenannten Radikalenerlaß. Mit einer „Regelanfrage“ wurden 3,5 Millionen Menschen vom „Verfassungsschutz“ auf politische „Zuverlässigkeit“ durchleuchtet. In der Folge kam es zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren,
1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Der „Radikalenerlaß“ führte zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, in der Briefzustellung, als Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten. In der Praxis traf es vor allem Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen. Mit dem Kampfbegriff der „Verfassungsfeindlichkeit“ wurden mißliebige und systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt, wurde die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit bedroht und bestraft.
Niemand von uns dachte im Traum daran, daß uns der Verfassungsschutz bereits bespitzelte und Akten über uns anlegte.
Willi Brandt war Bundeskanzler, und wir fieberten mit, daß er ein Mißtrauensvotum im Bundestag überstand. Und dann kam wie ein Paukenschlag der von Brandt initiierte Radikalenerlaß. Von diesem Moment an waren wir plötzlich Staatsfeinde. Nachdem bereits 1956 die KPD verboten worden war, wußten wir, was das für jeden von uns bedeuten konnte. Plötzlich war unsere Unbeschwertheit, unsere Leichtigkeit verschwunden. Jede(r) mußte für sich die Frage beantworten, wie reagiere ich? Behält die Angst die Oberhand oder ist der Wille stärker, für die eigene Überzeugung zu kämpfen und dafür unter Umständen mit Berufsverbot bestraft zu werden. Es folgte in meinem Fall, wie in Tausenden anderen Fällen, ein Anhörungsverfahren, in dem mir die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes vorgelegt wurden – ein Artikel in der Zeitung der DKP über einen Hochschulstreik, Kandidatur für den Spartakus, eine Studienreise in die DDR und die zentrale Frage, ob ich Mitglied der DKP sei. Ich habe diese Frage nicht beantwortet, da die DKP eine zugelassene Partei war und ist. Zum Glück stand mir ein Rechtsbeistand der GEW zur Seite, der mich beraten und unterstützt hat … Nicht nur beruflich und politisch, auch privat hatte diese Anhörung Folgen. Menschen zeigten mir ihre Solidarität, von denen ich es nie erwartet hätte. So hat sich zum Beispiel mein damaliger Schulleiter, ein SPD-Mitglied, geweigert, einen Bericht über mich für den Verfassungsschutz anzufertigen. Andere, enge Freunde und Kollegen, haben sich nicht getraut, ihren Namen unter eine Solidaritätsliste zu setzen. Die Angst vor Repressalien und das Mißtrauen hatten sich ausgebreitet. Ich erhielt anonyme Briefe, mußte Niedrigkeiten menschlichen Verhaltens erleben. Aber viel größer und bedeutender war die Solidarität vieler Kollegen, der Gewerkschaft, meiner damaligen Schüler und deren Eltern, meiner Familie, vieler Menschen, die ich vorher nicht gekannt hatte. Berufsverbotskomitees gründeten sich an meinem Wohnort, überregional und sogar in Holland, die sich mutig und mit langem Atem für mich und andere Betroffene engagierten. Bis heute bin ich all diesen Menschen dankbar. … Mich persönlich hat das Berufsverbot am Ende gestärkt. Die Solidarität hat mir geholfen, die harten Zeiten zu meistern. Angst vor vermeintlichen Autoritäten habe ich völlig verloren, ich habe mich nie als Opfer gefühlt, denn ich bin den Weg gegangen, den ich für richtig gehalten habe … Politische Auswirkungen haben die Berufsverbote bis heute. Wenn Kollegen aus Angst vor einem Eintrag in die Personalakte nicht an einem Streik der GEW teilnehmen, wenn gesellschaftlich wichtige Prozesse im Unterricht nicht behandelt werden etc., dann beruht dies auch darauf, daß die Angst vor Repressalien immer gegenwärtig ist.
Das Freiheitsgefühl und die Unbeschwertheit der siebziger Jahre sind bis heute verflogen. Der Traum von freien und gleichen Menschen in einer freien Gesellschaft ohne Bespitzelung ist weiter entfernt als zu meiner Studienzeit, aber er ist noch lange nicht aufgegeben.
Aus „Blickpunkt“, 2/2017, Zeitung der DKP für Mörfelden-Walldorf
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