EUropa – Friedensmacht
oder Kriegsprojekt?
Ungeachtet der Frage, ob und in welchem Maße die Europäische Union dazu beigetragen hat, den Frieden im Inneren mit zu bewahren – nach Außen sah es seit eh und je ganz anders aus. Spätestens als im Jahr 1999 beschlossen wurde, eine militärische Eingreiftruppe im Umfang von 60 000 Soldaten aufzubauen, wurde darüber hinaus die Entscheidung getroffen, die eigenen Interessen fortan auch direkt mittels gewaltsamer Interventionen durchzusetzen. Daß von einer „Zivilmacht EUropa“ heute leider keine Rede mehr sein kann, davon legen die mittlerweile etwa 30 Einsätze im Rahmen der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ ein beredtes Zeugnis ab. Und selbst vor Militäreinsätzen im Inland scheint man inzwischen nicht mehr zurückzuschrecken.
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nannte in einer Rede im März 2013 drei Gründe, weshalb die EU starke militärische Fähigkeiten benötige: „Erstens, um die Umsetzung der europäischen Ambitionen auf globaler Ebene zu gewährleisten. Das zweite Argument ist operativer Natur: Um zu gewährleisten, daß Europa über die richtigen militärischen Fähigkeiten verfügt, um handlungsfähig zu sein. Und der dritte Grund ist ökonomischer Natur: Hier geht es um Arbeitsplätze, Innovationen und Wachstum.“
Keiner dieser Gründe hat auch nur entfernt etwas mit Frieden zu tun: Die ersten beiden zielen darauf ab, ökonomische und strategische Interessen gewaltsam durchzusetzen, und sind nichts anderes als eine moralische Bankrotterklärung. Dies auch noch als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme darstellen zu wollen, hat ebenfalls nichts mit der Realität zu tun. Wie man es also dreht und wendet, all dies muß zu der Schlußfolgerung führen: Kein Mensch braucht das Militär und eine militarisierte Europäische Union!
Wenn Catherine Ashton von den „europäischen Ambitionen auf globaler Ebene“ spricht, so stellt sich natürlich die Frage, worin diese bestehen. Hier wird inzwischen Klartext geredet, die – tatsächliche oder vermeintliche – pazifistische Vergangenheit muß nun zugunsten einer militärisch gestützten Weltmachtpolitik ad acta gelegt werden. Nur so könne es gelingen, im globalen Gerangel um Macht und Einfluß einen Sitz in der vordersten Reihe der Großmächte zu ergattern.
In aller Deutlichkeit hat dies der frühere britische Premierminister Tony Blair im Juni 2011 auf den Punkt gebracht: „Für Europa ist es wesentlich, daß es versteht, daß die einzige Möglichkeit, um Unterstützung für Europa zu erhalten, heute nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, daß die EU notwendig für den Frieden ist. […] Die Existenzberechtigung Europas basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden. […] In einer Welt, in der vor allem China dabei ist, zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts zu werden, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen, um sein kollektives Gewicht zu nutzen, um globalen Einfluß zu erlangen.“ Militärische Fähigkeiten gelten dabei allem Anschein nach als eine Art Leitwährung, über die man verfügen muß, um glaubhaft einen Anspruch als Globalmacht geltend machen zu können. So schreibt Nick Whitney, der ehemalige Leiter der EU-Verteidigungsagentur: „Der Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht nicht so sehr darin, speziellen ‚Gefahren‘ zu begegnen, sondern weil sie ein notwendiges Instrument von Macht und Einfluß in einer sich schnell verändernden Welt darstellen, in der Armeen immer noch wichtig sind.“ Ganz ähnlich äußert sich auch der CDU-Verteidigungsexperte Andreas Schockenhoff: „Europa muß auch im 21. Jahrhundert in der Lage sein, militärische Macht einzusetzen, wenn dies der Wahrung und Durchsetzung seiner Interessen und Werte entspricht sowie völkerrechtlich legitimiert und politisch geboten ist. ‚Militärische Macht‘ bleibt ein Strukturprinzip internationaler Beziehungen.“
Wo und für welche konkreten Zwecke möchte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton „handlungsfähig“ sein, um dem europäischen Weltmachtanspruch Nachdruck verschaffen zu können?
Am 15. Oktober 2013 veröffentlichte sie ein Strategiepapier, in dem sie den gesamten Nachbarschaftsraum, der sich von Nordafrika bis in den Kaukasus erstreckt, zur eigenen Einflußsphäre und zu einem möglichen Zielgebiet von EU-Interventionen deklarierte: „Das neue Augenmerk der USA für die asiatisch-pazifische Region ist eine logische Konsequenz der geostrategischen Entwicklungen. Sie bedeutet auch, daß Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die seiner Nachbarschaft übernehmen muß. […] Die Union muß in der Lage sein, als Sicherheitsgarant – mit Partnern so möglich, autonom wenn nötig – in seiner Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein. Strategische Autonomie muß sich zuerst in der Nachbarschaft der Europäischen Union materialisieren.“
Fragt man nach den Interessen, die zu einem Militäreinsatz führen können, so sind selbstverständlich an vorderer Stelle die Auseinandersetzungen um knapper werdende Rohstoffe zu erwähnen. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Im von der sozialdemokratischen Abgeordneten Maria Eleni Koppa angefertigten Bericht des Europäischen Parlaments zur „Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ wird offen gesagt, beim EU-Militäreinsatz ATALANTA vor der Küste Somalias gehe es darum, Handels- und Tankerrouten zu sichern: „Das Europäische Parlament […] fordert den Europäischen Rat auf, erneut die Bedeutung des Zugangs zu Energieressourcen und der Energieversorgungssicherheit Europas zu bekräftigen; weist darauf hin, daß die Operation ATALANTA bereits eine Rolle in der Energiesicherheit einnimmt, indem Piraten bekämpft werden, die seit 2008 einige Öltanker entführt haben.“
Ganz generell geht es aber auch darum, sich über neoliberale „Reformen“ – wenn möglich exklusive – Investitions- und Absatzgebiete zu erschließen und hierdurch Länder und ganze Regionen auszubeuten.
Dies bedeutet aber auch (im Notfall), bereitzustehen und hieraus resultierende Armutskonflikte so weit als möglich militärisch zu deckeln, um so die „Stabilität“ des gesamten Weltwirtschaftssystems zu garantieren. Dies wird teils auch erschreckend offen eingeräumt: Im Mai 2011 erschien die deutsche Ausgabe des Sammelbandes „Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020“, der von der hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union, dem „Institute for Security Studies“ in Paris herausgegeben wurde. Darin heißt es: „Abschottungseinsätze – Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen – mit entsprechenden Konsequenzen. Da es uns kaum gelingen wird, die Ursachen dieses Problems, d.h. die Funktionsstörungen der Gesellschaften, bis 2020 zu beseitigen, werden wir uns stärker abschotten müssen. […] Für den Schutz der Ströme werden globale militärpolizeiliche Fähigkeiten (Schutz von Seewegen und kritischen Knotenpunkten etc.) und eine gewisse Machtprojektion (Verhinderung von Blockaden und Bewältigung von regionaler Instabilität) erforderlich sein.“
Weil die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik auch die zunehmende Verarmung der Menschen innerhalb der Europäischen Union zur Folge haben, wird mittlerweile sogar unüberhörbar darüber nachgedacht, im Falle von Sozialprotesten o. ä. notfalls auch EU-Militär im Inland einzusetzen. Es ist der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon, der hierfür Tür und Tor geöffnet hat. Denn in der „Solidaritätsklausel“ des parallel verabschiedeten „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV, Artikel 222) heißt es: „Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um […] im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.“
Jahrelang wurde vergeblich in Erfahrung zu bringen versucht, was eigentlich unter einer „vom Menschen verursachten Katastrophe“ zu verstehen ist. Erst Ende Dezember 2012 wurde diese Passage in dem von der EU-Außenbeauftragten und der EU-Kommission vorgelegten „Gemeinsamen Vorschlag für einen Ratsbeschluß zur Solidaritätsklausel“ präzisiert. Dort wird in Artikel 3 folgende Definition präsentiert: „Katastrophe: jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann;“ Auch eine „Krise“ kann die „Solidaritätsklausel“ auslösen, wobei diese wie folgt umschrieben wird: „Krise: eine ernste, unerwartete und häufig gefährliche Situation, die rechtzeitige Maßnahmen erfordert; eine Situation, die Menschenleben, die Umwelt, kritische Infrastrukturen oder wesentliche gesellschaftliche Funktionen betreffen oder bedrohen kann und auf eine natürliche oder von Menschen verursachte Katastrophe oder Terroranschläge zurückgeht.“ Insgesamt will man sich auch eine maximale Flexibilität bewahren: „Reaktion: jede Maßnahme, die während oder nach einer Katastrophe oder einem realen oder drohenden Terroranschlag zur Bekämpfung der unmittelbaren schädlichen Auswirkungen getroffen wird.“
Zumindest potentiell ist damit der Weg geebnet, Militär auch zur Niederschlagung von Sozialprotesten im EUInland einzusetzen. Dieser Verdacht ist jedenfalls alles andere als aus der Luft gegriffen. Das zeigt die Tatsache, daß EUProjekte bereits genau solche Szenarien im Auge zu haben scheinen. So schreibt „Focus“ über ein Projekt im Rahmen des EU-Forschungsrahmenprogramms zur künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur: „Generell könnte die Europäische Union häufig militärische Kapazitäten für die innere Sicherheit auf Basis einer weiten Auslegung der Solidaritätsklausel verwenden. Militärische Kräfte würden Hilfe während ziviler Unruhen und Aufstände liefern, etwa beim Schutz kritischer Infrastruktur, zur Strafverfolgung, zur Katastrophenabwehr und bei Großereignissen.“
Kommen wir zum letzten Argument Ashtons, weshalb ein Militärapparat notwendig sei: die „segensreichen“ Wirkungen der Rüstungsindustrie für „Arbeitsplätze, Innovationen und Wachstum“. Ganz abgesehen davon, daß dies wohl kaum eine Rechtfertigung darstellt, mit seinem Militär in der ganzen Welt herumzufuhrwerken, ist diese Aussage Ashtons auch noch schlicht falsch.
Immer wieder wird darauf angespielt, militärische Innovationen kämen auch der Privatwirtschaft zugute. Hochtechnologie ist aber heute Sache ziviler Firmen, und die Rüstungsindustrie greift auf deren Know-how zurück und nicht umgekehrt. Insgesamt ist festzuhalten, daß der volkswirtschaftliche Einfluß des Rüstungssektors, gelinde gesagt, stark übertrieben wird. Am Beispiel Deutschland argumentieren Lühr Henken und Peter Strutynski: „Der Umsatz der Rüstungsindustrie in Deutschland (2011 waren das nach Angaben des Bundesverbandes der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – BDSV – 28,3 Mrd. Euro), macht gerade einmal 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus (es handelt sich dabei um jene Werte, welche pro Jahr neu geschaffen werden). Setzt man den Exportwert der Rüstung (12,5 Mrd.) in Beziehung zum Gesamtexport der deutschen Wirtschaft, so landen wir sogar bei unter einem Prozent.“
Auch die Verweise auf den „Jobmotor Rüstungsindustrie“ halten keiner näheren Betrachtung stand. So verwies William Hartung auf neuere Studien aus den USA, in denen untersucht wurde, wie viele Arbeitsplätze durch Investitionen in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren geschaffen werden. Das Ergebnis: „Ausgaben im Militärbereich sind weniger effektiv, was die Schaffung von Arbeitsplätzen anbelangt, als so gut wie jede andere Form von Regierungsaktivität.“ Wiederum auf Deutschland bezogen, relativieren auch Henken und Strutynski die Bedeutung der Rüstungsindustrie für den Arbeitsmarkt: „Der BDSV spricht von 98 000 Rüstungsarbeitsplätzen (andere Schätzungen liegen bei nur 80 000). Aber auch diese höhere Zahl bedeutet nur einen Anteil von 0,24 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Mit anderen Worten: Die Rüstungswirtschaft ist eine marginale Größe in Deutschland.“
Dies alles zeigt: Es wäre durchaus möglich, die Rüstungsproduktion auf die Herstellung ziviler Güter umzustellen. Doch hierfür fehlt der politische Wille – und dies hat nichts mit Arbeitsplätzen oder Frieden zu tun, sondern damit, daß das Militär ein zentrales Mittel für deutsche und europäische Weltmachtambitionen darstellt.
Unsere Autorin ist außen- und friedenspolitische Sprecherin der Linken im Europaparlament.
Nachricht 1624 von 2043
- « Anfang
- Zurück
- ...
- Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
- Soll die Welt schon wieder
am deutschen Wesen genesen? - Über die Biermann-Legende
- EUropa – Friedensmacht
oder Kriegsprojekt? - Leserbriefe
- Grândola, vila morena …
- Urte Sperlings engagierter Report
- ...
- Vorwärts
- Ende »