Der „rheinische Widerstandsforscher“
erzählt Kalendergeschichten
Falsche Bullen und andere Warnhinweise
Der schmale Band im Taschenbuchformat, ein „Vademecum“ (lat. für Begleiter), erschien pünktlich im Juni diesen Jahres zum 85. Geburtstag des Autors Erasmus Schöfer. In seinen Kalendergeschichten erzählt der in Köln lebende „rheinische Widerstandsforscher“ fünfzig wahre Begebenheiten von Menschen, die sich empörten über Unrecht, Krieg und Gewalt und wie sie sich dagegen gewehrt haben. Manche dieser Widerständigen wurden später berühmt, zum Beispiel Rosa Parks mit ihrem Signal zu gewaltlos-gewaltigem antirassistischem Protest 1955 im US-Staat Alabama, oder wie der Dichter und Flugblattherausgeber Georg Büchner, dessen mitreißendes Fanal „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ noch nach fast zwei Jahrhunderten nachhallt. Oder wie Beate Klarsfeld, die 1968 dem Altnazi im Bundeskanzleramt eine weit in die Weltöffentlichkeit hinausschallende Ohrfeige verabreichte. Doch Nachruhm ist es nicht, der die Mutigen antrieb und -treibt. So würdigen die meisten der Kalendergeschichten die Gegenwehr der eher unbekannten Männer und Frauen – und ermutigen dazu, es ihnen an Widerstandsgeist und -tat gleichzutun. Solchen wie den Verfasserinnen und Verfassern der „Warnung vor falschen Bullen“ in Westberlin 1988. Dank ihrer kann sich heute keiner der bundesdeutschen Gewaltexekutoren mehr des rechtsfreien Raumes in anonymer „Bullenherde“ sicher sein.
Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow,
der am 26. September 1983
die Welt vor einem atomaren
Inferno rettete.
Und das kam so: „Die erste Kreuzberger Barrikadennacht 1988 lag wenige Tage zurück. Polizei lungerte überall im Kiez bedrohlich herum. Da lag eines Morgens in den Briefkästen der Bewohner ein Brief des Berliner Polizeipräsidenten. Er teilte den Bürgern mit, daß in letzter Zeit Banden in Kreuzberg ihr Unwesen trieben. Diese tarnten sich mit Polizeiuniformen, die denen echter Polizisten zum Verwechseln ähnlich sähen. Der Polizeipräsident forderte die Bürger auf, die falschen Polizisten zu enttarnen, indem sie sie nach ihren Dienstnummern fragten. Diese könnten sie nämlich nicht vorweisen. Der Brief war deutsch und türkisch auf einem sehr glaubwürdig erscheinenden Briefbogen abgefaßt. Zu gleicher Zeit lief in den Berliner Medien eine Diskussion, in der es um die Kenntlichmachung der Polizisten durch Dienstnummern ging. Heute tragen sie solche.“
Eine weitere der beschriebenen Taten hat eine über Westberlin und die Bundesrepublik hinausgehende Wirkungs-Reichweite, erforderte mindestens ebensoviel Witz und noch mehr Wagemut. „Kaum zu glauben“ ist sie überschrieben. „Im schottischen Hafen Faslane waren die amerikanischen Trident-U-Boote stationiert, die von Atomreaktoren angetrieben werden und atomare Raketen unvorstellbarer Vernichtungskraft starten können, wo immer sie sich gerade unsichtbar in den Weltmeeren befinden. Im Februar 1999 schwammen drei Aktivistinnen der Pflugscharbewegung, Angie, Ellen und Ulla, durch das eiskalte Hafenwasser zu einem unbewachten Trident-U-Boot und schafften es irgendwie, ins Innere zu gelangen und an die Computer zu kommen. An denen vergriffen sie sich und warfen sie über Bord! Eine schottische Richterin sprach die drei frei, da Atomwaffen illegal seien und die Angeklagten das Recht gehabt hätten, das Schiff zu entwaffnen. Das Urteil wurde in der zweiten Instanz kassiert und den Frauen ein trockener Besinnungsaufenthalt in einem schottischen Gefängnis verordnet.“
Das sind mit jeweils 120 Wörtern die beiden kürzesten unter den 50 Kalendergeschichten. Kurzweilig sind sie indessen alle und dazu leicht lesbar in (fast) jeder Lebens- bzw. Lesenslage. Was begab sich an widersetzlich-trotzigen Taten, die überschrieben sind mit „Der Frauenstreik“, „Das Gebet der schießenden Hände“ oder „Der hilfreiche KAZET-Kommandant“? Zu erfahren in der häuslichen Leseecke ebenso wie zwischen zwei S-Bahn-Stationen oder beim Warten an der Supermarktkasse.
Die Heldentat mit dem zweifellos höchsten Friedensrettungspotential ist die des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow, der 1983 zum „Menschheitsretter in siebzehn Minuten“ wurde. Er gehorchte allein seiner Menschenvernunft, als maschinengenerierte Signale einen atomaren US-Erstschlag anzeigten. Entgegen der verbindlichen Befehle verzichtete Stanislaw auf das sofortige Einleiten des Gegenschlages, warnte statt dessen vor möglichem Fehlalarm – und nach 17 Minuten kam die erlösende Meldung vom Computer-Error infolge Sonnenreflexionen. Den Friedensnobelpreis hätte der besonnene Bewahrer des Planeten verdient; er blieb ihm bis heute versagt.
Die Form der Kalendergeschichten nimmt eine volkserzieherisch inspirierte Tradition aus früheren Jahrhunderten wieder auf, als die arbeitenden Menschen wenig Zeit für lange Texte und kein Geld für dicke Bücher hatten. Das Vorwort zum „Vademecum“ verweist auf Hans-Jacob von Grimmelshausen, im 17. Jahrhundert ein erster Kalendergeschichten-Verfasser und -Herausgeber, und auf Johann Peter Hebel im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert bedienten sich unter anderen Bertolt Brecht und Erwin Strittmatter der bildenden und unterhaltenden Erzählweise von Kalendergeschichten. Erasmus Schöfer setzt im neuen Jahrtausend auf deren aufklärerische Kraft – und damit auch einen Kontrapunkt zu seinem Hauptwerk „Die Kinder des Sisyfos“. Ein Romanwerk wie dieses erfordert Ruhe und Muße (der vierte, 2008 erschienene Teil „Winterdämmerung“ wurde im April 2013 im „RotFuchs“ besprochen) hält die Lesenden an zu lernbereiter Rückschau auf die Jahre von 1968 bis 1989. Schöfers Kalendergeschichten hingegen, obgleich aus zwei Jahrtausenden statt zwei Jahrzehnten erzählend, sind dafür gemacht, ihre Botschaft jetzt und hier und unmittelbar zu senden: Widersetzt euch!
Das Büchlein ist vorzüglich geeignet, um es als Zeichen des Dankes bzw. Respekts an Menschen des Widerstands zu überreichen – seien es Gleichgesinnte oder Verbündete im gemeinsamen Einstehen gegen Krieg, Sozialabbau und Unterdrückung.
Erasmus Schöfer:
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Verbrecher-Verlag, Berlin 2016, 144 Seiten
ISBN 978-3-95732-189-3
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