RotFuchs 187 – August 2013

Der türkische Premier Erdogan setzt auf brutalste Repression

Faschisierer mit islamischer Maske

RotFuchs-Redaktion

Die jüngste Entwicklung im NATO-Staat Türkei ist vor allem durch zwei Tatsachen bestimmt. Einerseits nehmen die seit Jahren eine radikale Islamisierung betreibenden Konservativen der regierenden AKP des Ministerpräsidenten Erdogan Zuflucht zu Methoden noch gnadenloserer Repression. Andererseits genügte ein ins Pulverfaß geschlagener Funke, um die aufgestaute Empörung breiter Schichten der türkischen Gesellschaft zur Explosion zu bringen und die innenpolitische Entwicklung bis an die Schwelle einer revolutionären Situation voranzutreiben. Dabei sind die objektiv entstandene Lage und die Möglichkeiten ihrer Ausnutzung durch Fortschrittskräfte zwei verschiedene Dinge.

Ausgelöst wurde die jüngste Protestwelle durch ein eher zweitrangiges Ereignis, das zunächst nur wenige hundert Demonstranten auf den Plan rief: Die Ankündigung Erdogans, das letzte Stückchen Instanbuler Stadtgrün, den Gezi-Park, abholzen und als Bauland freigeben zu wollen. Obwohl der geplante Schritt scheinbar keine ideologische Komponente besaß und sich alles hinter einem Rauchschleier vager Andeutungen vollzog, sickerte durch, daß das im Gezi-Park geplante Handelszentrum mit einer Moschee verbunden sein könnte.

Die für ihre Gnadenlosigkeit gegenüber Andersdenkenden berüchtigten Schlägergarden der türkischen Bereitschaftspolizei wüteten diesmal mit einer selbst für sie ungewöhnlichen Härte. Die in Exzessen der Grausamkeit gipfelnde Orgie der Gewalt wurde nicht nur von 180 linken und demokratischen Organisationen unterschiedlichster Art, die sich zur Taksim-Solidarität vereinten, entschlossen zurückgewiesen, sondern auch von bisher eher indifferenten Teilen der Bevölkerung. Zehntausende strömten seit dem 27. Mai – überwiegend spontan – zum Taksim-Platz, um ihn Tag und Nacht in Besitz zu nehmen.

Während die Menge der Protestierenden in Istanbul ständig anwuchs, griff der Widerstand auch auf Ankara und andere Zentren des Landes über. Dabei gehörten nach Schätzungen etwa 70 % der Teilnehmer an diesen Aktionen keiner politischen Partei an. Die Hälfte der Demonstranten kam erstmals zu einer solchen Willensbekundung. Viele trotzten dem Terror der von Erdogan aufgehetzten Polizei, deren über der Menge ausgeschüttete Tränengaskanister die Gegend um den Taksim-Platz in ätzende Dunstschwaden hüllten. Mehr als 5000 Menschen wurden verletzt, einige kritisch. Es gab Tote unter den Demonstranten. Der Gipfel der Volksfeindlichkeit: Der AKP-„Gesundheitsminister“ kündigte an, allen an der Betreuung Mißhandelter beteiligten Ärzten die Approbation zu entziehen. Doch die Antwort folgte auf dem Fuße. Tausende Anwälte reihten sich unter die Protestierenden ein. Der heftige Massenwiderstand hat seine tiefere Ursache zweifellos in den enormen sozialen Sorgen der meisten Türken. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt von Tag zu Tag. Üble Auswirkungen auf den ohnehin bescheidenen Lebensstandard der Massen hat auch Erdogans Politik der Verschleuderung von Filetstücken öffentlichen Eigentums.

Der aggressive Kurs des innenpolitisch die Islamisierung der Heimat Atatürks vorantreibenden AKP-Führers, der außenpolitisch gegenüber Syrien die Karte des Krieges zieht, hat Millionen Landesbürger – Gläubige wie Nichtgläubige – gegen Erdogan aufgebracht. Dessen bellizistische Sprache stößt – selbst unter realistisch denkenden Anhängern seiner AKP – auf immer heftigere Ablehnung.

So waren die Vorgänge um den Gezi-Park nur der Anlaß, den sich seit langem aufbauenden Volkszorn explodieren zu lassen. Auf dem Taksim-Platz nahm die Jugend buchstäblich alles in die Hand. 90 % der dort Zusammengeströmten waren – übrigens wie in Ägypten meist durch Facebook und Twitter mobilisiert – zwischen 19 und 30 Jahren. Ein besonders großes Kontingent stellten Studenten, deren Unzufriedenheit mit der bildungsfernen Politik der AKP in letzter Zeit weiter angewachsen ist.

Eine zentrale Forderung der Demonstranten war das Verlangen nach Demokratie und Mitspracherechten, die das immer faschistoidere Züge annehmende Erdogan-Regime den Bürgern verwehrt.

In der Türkei ist inzwischen von einer „Erdoganisierung der gesamten Gesellschaft“ die Rede. Die Opposition attackiert vor allem den autoritären Führungsstil des Machthabers, wobei dessen Anhängerschaft sehr differenziert zu betrachten ist. Andererseits teilen auch viele Protestierer nicht die marxistische Konsequenz der türkischen Kommunisten und anderer weiter blickender Linker.

Um den Widerstand gegen sein Regime abzuwürgen und dessen Kräfte aufzuspalten, hat Erdogan selbst Hunderttausende ideologisch in seinem Fahrwasser Schwimmende oder einfach nur Unwissende zu militanten Treuebekundungen für ihn und den Propheten Mohammed aufmarschieren lassen. Viele von ihnen wurden zwangsrekrutiert. Erdogan bedient sich sehr bewußt der islamistischen Karte, um seine wahren Ambitionen zu verbergen. Vor allem geht es ihm darum, die türkischen Mohammedaner gegen die nationale Protestbewegung, der sich nicht wenige von ihnen angeschlossen haben, ins Feld zu führen. Doch das verfängt nur zum Teil. So vernahm man aus den Reihen der Demonstranten wiederholt Sprechchöre islamisch gekleideter Frauen: „Unsere Häupter sind vielleicht verhüllt, nicht aber unser Verstand.“

Was die türkischen Kommunisten betrifft, so unterstützen sie die Massenproteste nicht nur verbal, sondern auch äußerst aktiv. Die Genossen der TKP stehen immer und überall in den vordersten Reihen der zum Kampf gegen das Erdogan-Regime Angetretenen, ohne dabei irgendwelche Sonderrechte oder gar die Führung der Bewegung für sich zu beanspruchen.

Die Erdogan-Diktatur schlägt zurück. In der Hauptstadt Ankara überfiel ihre Polizei das TKP-Büro mit Tränengas. Sämtliche sich in den Räumen des „Kulturzentrums Nazim Hikmet“ aufhaltenden Personen wurden festgenommen. In Antakya beschossen Gendarmen ein Fahrzeug mit fünf TKP-Mitgliedern aus automatischen Waffen, so daß es von der Route abkam. Sämtliche Insassen wurden verletzt, einer schwer.

„Solidaire“ zitierte den an der belgischen Universität Gand tätigen türkischen Soziologen Orhan Ağirdağ mit den Worten: „In meinem Heimatland entsteht oftmals der Eindruck, das Europa der EU habe sich für das Lager der AKP entschieden. Die Bürger der EU-Staaten sollten indes durch ihre Solidarität mit dem türkischen Volk das Gegenteil dessen beweisen.“

RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel, und „The Guardian“, Sydney