Flüchtlingen eine Stimme geben
Meldungen über Bürgerkriegsgemetzel und Flucht von Menschen aus umkämpften Regionen gehen häufig im allgemeinen Nachrichtenbrei unter. Eine Migrationswelle im Jahre 2015 sorgte allerdings für Schlagzeilen: Zehntausende machten sich damals‒ zunächst hauptsächlich aus Flüchtlingslagern im Süden Anatoliens– über die sogenannte Balkanroute auf den Weg ins vermeintlich gelobte Land Mitteleuropa.
Die Autorin Nermin Ismail ist geborene Österreicherin mit arabischen Wurzeln. Sie war eine von vielen Helfern, die sich – ohne Auftrag und ohne Bezahlung – auf den Weg machten, als erste Nachrichten über die Zustände auf dieser Fluchtroute in den Medien auftauchten. Dank ihrer Sprachkenntnisse fungierte Ismail hauptsächlich als Dolmetscherin, vermittelte zwischen Flüchtlingen, Einheimischen und Hilfsorganisationen.
Sie hat ihre Erinnerungen an diese Monate nun in Buchform herausgebracht. Die „Etappen einer Flucht“ sind anatolische Küstenstädte, griechische Inseln, ungarische Bahnhofshallen und österreichische Auffanglager. Das Buch liefert ein Mosaik an Sichtweisen und Informationen, die in Nachrichtensendungen und Zeitungsberichten kaum auftauchten oder schnell wieder verschwanden.
Natürlich ist das Buch auch ein Loblied auf die international zusammengewürfelte Schar der Helfer, zu denen die Autorin selbst gehörte. Damals kamen sogar Menschen aus den Golf-emiraten nach Griechenland, wollten durch konkrete Hilfe ein Zeichen gegen die Abschottungspolitik ihrer regierenden Monarchen setzen. Nermin Ismail macht aber keinen Hehl daraus, daß sie selbst und alle anderen Helfer privilegiert waren. Statt einer lebensgefährlichen Überfahrt im überladenen Schlauchboot reichte für sie ein simples Vorzeigen des Passes, um für 20Euro eine bequeme und sichere Passage zu buchen.
Verdienst der Autorin ist es, den ankommenden Namenlosen eine Stimme zu geben. Sie schildert unzählige Einzelschicksale, Solidarisierungen, Hilfsaktionen, auch Konfrontation mit Geschäftemacherei und bürokratischer Unmenschlichkeit. In der Einleitung bringt sie die Botschaft dieser Ankömmlinge auf den Punkt: „Wir wollen keine Probleme machen, wir wollen nur unsere Kinder zur Schule bringen, wir wollen nur arbeiten und ein normales Leben führen, wir wollen niemandem etwas wegnehmen.“
Natürlich kam diese Botschaft auf Dauer nicht an. Das Buch endet nicht mit dem Ausblick auf ein garantiertes Bleiberecht, sondern mit der Hoffnungslosigkeit und Tristesse von Notunterkünften, in denen traumatisierte Familien monatelang auf Bescheide einer hoffnungslos überforderten Bürokratie warteten.
Nein, das Buch liefert keine Analyse der Ursachen dieser Migrationsbewegung, auch keine Theorie, wieso diese kurzzeitig alle großen Medien dominieren konnte. Das Werk ist jedoch auf seine Weise ein grandioses Zeitdokument, eine Erinnerung an wenige Monate, in der eine Welle der Solidarisierung Abschottungshysterie und offenen Rassismus in den Hintergrund drängen konnte.
Nermin Ismail:
Etappen einer Flucht
Tagebuch einer Dolmetscherin
Promedia-Verlag, Wien 2016, 240 Seiten
ISBN 978-3-85371-409-6
19,90 €
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