Orakeln aus dem Kaffeesatz oder marxistische Voraussicht?
Friedrich Engels und der 1. August 1914
Am 1. August 1914 brach das kaiserliche Deutschland gemeinsam mit dem habsburgischen Österreich den Ersten Weltkrieg vom Zaun, der ein bis dahin noch unbekanntes, sich über vier Jahre erstreckendes Völkergemetzel zur Folge hatte.
Das durch Versailles geschwächte und gedemütigte Frankreich und das in seinem Vorherrschaftsanspruch auf den Meeren bedrohte England reagierten nicht weniger kriegslustig, ebenso der russische Zar, der sich vor allem Serbien verpflichtet sah. Japan nutzte die Gunst der Stunde, um seine Vorherrschaft gegenüber China zu demonstrieren.
Das gigantische gegenseitige Abschlachten kam nicht von ungefähr. Schwarze Wolken hatten sich schon seit Jahren über Europa und angrenzenden Teilen der Welt zusammengezogen. Erinnert sei nur an den Panthersprung nach Agadir, wohin der kriegslüsterne, mit geistigen Gaben nicht übermäßig gesegnete Kaiser Wilhelm II. ein Kanonenboot seiner Flotte zu provokatorischen Zwecken entsandt hatte.
Den deutschen Militaristen dauerte die Zeit ohne Krieg seit 1871 zu lange. Sie gierten nach einem neuen Waffengang und „erzogen“ die Jugend in säbelrasselnder Weise. „Mutter, Weihnachten sind wir wieder zu Hause!“ schrieben sie an die Waggons der Deutschen Reichsbahn, mit denen sie Anfang August als Schlachtopfer an die Westfront transportiert wurden.
Friedrich Engels war sachkundig. Er hatte sich 1848 praktisch und in den darauffolgenden Jahrzehnten auch theoretisch-analytisch mit Militärwesen und -politik in den mächtigsten europäischen Ländern auseinandergesetzt. So unterbreitete er der Öffentlichkeit einen durchaus umsetzbaren Vorschlag zur Abrüstung auf dem Kontinent.
In unseren Augen ist die Vorhersage von Engels, die er am 19. Dezember 1887 zu Papier brachte, ein Meisterstück wissenschaftlicher Prognose. Fast 30 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges analysierte er nicht nur den aus seiner Sicht zu vermutenden Ablauf des Geschehens auf dem Kriegsschauplatz, sondern auch von ihm ins Auge gefaßte politische Resultate.
„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.“ (MEW, Bd. 21, S. 350 f.)
Engels hielt damals auch nicht mit seinen politischen Vorstellungen zum denkbaren Ausgang dieses Krieges hinter dem Berg: „… absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. – Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. Das ist es, meine Herren Fürsten und Staatsmänner, wohin Sie in Ihrer Weisheit das alte Europa gebracht haben. Und wenn Ihnen nichts andres mehr übrigbleibt, als den letzten großen Kriegstanz zu beginnen –, uns kann es recht sein. Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber wenn Sie die Mächte entfesselt haben, die Sie dann nicht wieder werden bändigen können, so mag es gehn wie es will: Am Schluß der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.“
Was Engels damals vorhersah, traf nicht nur für die Dimensionen dieses Weltkrieges, sondern auch für seine Resultate – im wesentlichen – zu, auch wenn er angesichts der wachsenden Stärke der deutschen Sozialdemokratie zu optimistisch war und noch nicht das erst später erkennbare Anwachsen des Revisionismus in dieser Partei sowie das Handeln solcher SPD-Führer wie Noske auszumachen vermochte.
Aber die Prognose traf im großen und ganzen zu: Etliche Monarchien verschwanden. Die Landkarte Europas veränderte sich radikal. Das Deutsche Reich und auch Italien mußten erhebliche Territorien abtreten. Mehrere Staaten entstanden neu oder in anderer Form wieder. Ich nenne nur Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien.
Uns interessieren vor allem auch die Aussagen des großen marxistischen Denkers zu Revolutionen. Am Ende des Ersten Weltkrieges kam es nicht nur zur Oktoberrevolution, sondern kurz danach auch zu anderen Erhebungen oder versuchten Umstürzen. Die russische Revolution des Jahres 1917 brachte nicht nur den weltweit ersten sozialistischen Staat hervor, sondern wirkte auch weit über Europa hinaus. Kampf und Sieg der chinesischen Kommunisten waren ein Widerhall der Oktoberrevolution in Asien. Fast zeitgleich mit der Gründung der DDR entstand die VR China, die heute ein mächtiger Staat ist, der den USA Paroli zu bieten vermag.
Die Saat des roten Oktober ging nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Reihe von ost-, südost- und zentraleuropäischen Ländern auf und führte zum Entstehen volksdemokratischer und später sozialistischer Staaten. Trotz deren schwerer Niederlage keimt sie immer noch. Große Teile der Welt sind durchaus revolutionsträchtig, wenngleich in unterschiedlichsten Formen.
Lenin hoffte, daß die erfolgreiche russische Revolution zum Fanal für tiefgreifende Umwandlungen in Europa, besonders in hochentwickelten kapitalistischen Ländern wie Deutschland werden könnte. Die Geschichte nahm einen anderen Verlauf, weil die reaktionären Kräfte des Großkapitals im Bunde mit rechten SPD-Führern wie Ebert, Scheidemann und Noske die Möglichkeiten der deutschen Novemberrevolution blockierten. Das hatte Engels 1887, als die Sozialdemokratie hierzulande auf dem Vormarsch war und im Reichstag immer mehr Sitze errang, nicht für möglich gehalten.
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