Fruchtbare Zusammenarbeit
und Freundschaft
Freundschaft ist eine zarte Pflanze, die gepflegt werden muß. Sie kann sich nur entfalten, wenn sie wachsendes Vertrauen als Basis hat. Freundschaft zu Kolleginnen und Kollegen aus sozialistischen Ländern, vor allem der Sowjetunion, als Basis fruchtbarer Zusammenarbeit war mir stets ein Herzensbedürfnis. Nach der Berufung als Hochschuldozentin 1969 für Ethik an der Humboldt-Universität Berlin (HUB) bemühte ich mich um den Aufbau eines eigenen Bereichs Ethik an der Sektion Philosophie. Das gelang 1971. 1974 wurde ich, dann schon als Leiterin des Lehrstuhls (Bereich) Ethik, zur ordentlichen Professorin für Ethik berufen. Das gab mir die Möglichkeit, mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, internationale Kontakte zu intensivieren. So bauten wir einen engen wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt zum Lehrstuhl Ethik an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Moskauer Lomonossow-Universität auf. Die nun folgende, für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit prägte die Entwicklung unseres Bereichs. Wir tauschten Lehrmaterialien aus, und Lehrkräfte aus Moskau wurden zu Gast-Professuren eingeladen. Der 2015 als Ehrenmitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaft zu Berlin gewählte Prof. Dr. Abdusalam Guseynow, bis 2014 Leiter des Lehrstuhls Ethik der Lomonossow-Universität und Direktor des Philosophischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, war von 1978 bis 1980 Gastprofessor für Ethik an der HUB. Mit ihm verbindet mich und meinen Mann eine seit unserer Zusammenarbeit währende Freundschaft, die alle gesellschaftlichen Stürme überstanden hat. Als Bereich Ethik der HUB betreuten wir von 1981 bis 1986 in jedem Jahr für jeweils 10 bis 14 Tage einen Gast vom Moskauer Ethik-Lehrstuhl, mit dem wir viele interessante Diskussionen hatten. Arbeitsgespräche in Moskau und Berlin fanden statt, Wissenschaftliche Tagungen wurden von uns gemeinsam ausgerichtet.
Unser Zusammenwirken mit den Moskauern umfaßte einen konstruktiv-kritischen Blick auf die Grundprobleme der Ethik, verbunden mit einem intensiven Meinungsaustausch. Das half mit, unter Beachtung der internationalen Situation und spezifischer nationaler Bedingungen, ethische Positionen in der Lehre zu vertreten. Das war ein Gewinn für die Studierenden. Ihre Problemsicht wurde geweitet. Provinzialismus hatte keinen Platz. Zugleich ging es darum, die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen und kein in sich geschlossenes System ohne Bezug zu realen Problemen zu verkünden. Theoretische Lösungen mit praktischer Relevanz suchten und fanden wir in konstruktiven Beratungen. So entstanden gemeinsame Publikationen. Zu unseren Forschungen und Debatten erschienen Sammelbände in Berlin und Moskau.
Ein wichtiges Thema in unseren gemeinsamen Diskussionen war die Entwicklung von charakterlichen Eigenschaften von Persönlichkeiten. Die gesellschaftlichen Grundlagen waren in unseren Ländern, trotz vieler Gemeinsamkeiten, unterschiedlich. Das mußte sich in den wissenschaftlichen Ergebnissen widerspiegeln, so auch in meinen Arbeiten. Nehmen wir dazu ein Beispiel: In der Publikation „Blickpunkt Persönlichkeit“ (1975) wertete ich umfangreich die vorhandene internationale philosophische, psychologische und pädagogische Literatur zur Persönlichkeitsentwicklung aus. Als Diskussionsangebot legte ich einen Beitrag zur Ausarbeitung einer Persönlichkeitstheorie vor. Ich stellte mir die Frage, was Ethik leisten kann, und suchte Antworten darauf. Mir reichte es nicht aus, auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu vertrauen, die mit dem Sozialismus automatisch zu einer besseren Moral führen sollten, wie manche meinten. Statt nur über Kollektive zu reden, richtete ich den Blick auf das Individuum, das sich durch Bildung, Erziehung, Ausschöpfen der inneren Reserven zu einer selbstbewußten und sich selbst verwirklichenden Persönlichkeit entwickeln konnte. Dafür galt es Bedingungen zu schaffen. Praktische Probleme, die ich aus meiner nationalen und internationalen Arbeit als Frauenrechtlerin kannte, beschäftigten mich. Kritisch setzte ich mich mit Hemmnissen auseinander, die manchmal auch zu Deformationen von Individuen führten.
Wie ging es nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Abwicklung unseres Bereiches Ethik an der HUB 1990 weiter? Die wissenschaftlichen und persönlichen Kontakte, erst sporadisch, nun wieder intensiver, gingen weiter. Als ich 2015 zu meinem 80. Geburtstag ein offizielles Schreiben von der Philosophischen Fakultät und dem Lehrstuhl Ethik der Moskauer Lomonossow-Universität erhielt, in dem diese fruchtbare Zusammenarbeit lobend hervorgehoben wurde, fand ich bestätigt, daß Freundschaft unzerstörbar ist, wenn sie von beiden Seiten als Herzenssache angesehen wird.
Wie in früheren Zeiten wird auch darauf verwiesen, daß auf heutige Publikationen mit einer Rezension reagiert wird und die weitere Zusammenarbeit durch gemeinsame Beteiligung an Sammelbänden unsere Verbundenheit weiter dokumentiert. So wurde beispielsweise eine gemeinsame Publikation von meinem Mann, Herbert Hörz, und mir zum Thema „Ist Egoismus unmoralisch?“ (2013) umfangreich im Journal „Philosophie und Kultur“ vorgestellt. Echte Freundschaft bedarf also keiner Reglementierung durch irgendwelche Institutionen!
Als kurios betrachte ich, daß im Jahre 2008 Humboldt-Universität und Lomonossow-Universität auf einer Veranstaltung, von der ich zufällig erfuhr, 50 Jahre freundschaftliche Zusammenarbeit feierten, ohne uns und unsere Moskauer Partner, die diese Zusammenarbeit gestaltet haben, einzuladen. Es ist beschämend, wenn man offiziell Jahrestage zwischen Einrichtungen begeht, ohne diejenigen einzubeziehen, die jahrelang dort gewirkt haben. Wir, die Ethiker aus der Sowjetunion und der DDR, beteiligten uns aktiv an den Treffen der auf dem Gebiet der Ethik Lehrenden und Forschenden aus den sozialistischen Ländern. So gab es mit den Ethikerinnen und Ethikern aus Polen, Ungarn und Bulgarien weitere enge Kooperationsbeziehungen. Gemeinsame Tagungen, Publikationen, Gastvorlesungen, aber auch die Betreuung junger Wissenschaftler, wurden geleistet. Die Kontakte mit polnischen Ethikerinnen und Ethikern waren immer interessant. In angenehmen offenen Diskussionsrunden wurde heiß um wichtige Lebensfragen diskutiert, daneben Geschichte, Tradition und Kultur erlebbar gemacht. Auch hier entstanden Freundschaften.
Die ungarischen Kollegen hatten ebenfalls Interesse an einem wissenschaftlichen Austausch zu anstehenden ethischen Fragen, die eine Antwort forderten. Sie luden mich ein, vor den Ethikern der Budapester Lorand-Eötvos-Universität über „Moralische Verantwortung und Entscheidung“ zu sprechen. Lebhafte Diskussionen lösten dabei meine Darlegungen zum Verantwortungsbereich und Entscheidungsspielraum des einzelnen aus. In dieser Frage hatte ich viel von meinem Ehemann und seinen Arbeiten über den dialektischen Determinismus und die statistische Gesetzeskonzeption profitiert und konnte deshalb mit sachkundigen Argumenten überzeugen.
Wenn man die Jahre des Zusammenwirkens mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen sozialistischen Staaten Revue passieren läßt, dann waren es wichtige Lebensabschnitte, die wir gemeinsam gestaltet haben. Freundschaften entstanden und bewährten sich. Die Entwicklung der Ethik als Wissenschaft wurde vorangetrieben. Humanistische Grundpositionen, die Konsenswillen und Konsensbereitschaft einschließen, wurden entwickelt und gelebt. Wir verurteilten Kriege als untaugliches Mittel zur Durchsetzung von staatlichen Zielen und Konzerninteressen. In diesen Positionen zogen wir an einem Strang. Es bleibt dabei: Fruchtbare Zusammenarbeit und Freundschaft hören nicht auf!
Aus: Heimat DDR (Spuren der Wahrheit, Bd. 11), GNN-Verlag, Schkeuditz 2015
(gekürzt und redaktionell bearbeitet)
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