„Für eine neue Ostpolitik Deutschlands“
Aus dem am 27. April von einer Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag abgelehnten Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke u.a.
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. In den deutsch-russischen Beziehungen herrscht Eiszeit. Sanktionen und Gegensanktionen bestimmen das Bild. Die Politik der Sanktionen und der Gesprächseinschränkungen ist gescheitert. Eine Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland, zwischen der EU und Rußland ist unverzichtbar.
2. Die deutsch-russischen Beziehungen waren immer ausschlaggebend für Sicherheit und Entspannung in ganz Europa. Die Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen liegt im Interesse aller friedliebenden Menschen in Deutschland und Rußland. Sie sind auch im Interesse gesamteuropäischer Politik.
3. Vieles in den deutsch-russischen Beziehungen erinnert an Zeiten des kalten Krieges. Wo Abrüstung geboten wäre, dominiert auf beiden Seiten verbale und militärische Aufrüstung. Diplomatie und militärische Zurückhaltung sind ins Abseits geraten.
4. Die Erinnerung an 27 Millionen durch den faschistischen Krieg ermordete Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion, darunter viele Russinnen und Russen, sollte bestimmend für den besonderen Stellenwert der deutsch-russischen Beziehungen sein. Der Roten Armee, den Ländern der Sowjetunion als Teil der Anti-Hitler-Koalition verdankt Europa und verdankt Deutschland in besonderem Maße die Befreiung vom Hitlerfaschismus.
5. Bis 1990 herrschte in Europa eine der längsten Phasen nichtkriegerischen Zusammenlebens, allerdings immer unter der Drohung der Möglichkeit gegenseitiger Vernichtung. Die Verträge von Moskau, Warschau und Berlin und vor allen Dingen die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) schufen für diesen Status die rechtliche und vertragliche Grundlage und ermöglichten eine Politik der friedlichen Koexistenz in Europa, deren Ergebnisse noch heute spürbar sind. Der Jugoslawienkrieg und aktuell der Krieg in der Ukraine haben jedoch gezeigt, daß die jetzige geostrategische Dominanzpolitik die Gefahr kriegerischer Konflikte in Europa, in die die Großmächte Rußland und die USA einbezogen sind, akut werden lassen. Der Grundkonsens deutscher Politik, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, ist seitdem vielfach gebrochen worden. (…)
7. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes erwarteten viele Menschen in allen Teilen Europas einen Abbau der Strukturen der NATO und damit eine Auflösung des westlichen Militärbündnisses. (…)
9. Eine große Mehrheit der Menschen in unserem Land wünscht eine Politik der friedlichen Koexistenz und guten Nachbarschaft mit Rußland. (…)
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. unverzüglich Vorschläge für eine Wiederverbesserung des deutsch-russischen Verhältnisses vorzulegen, im Rat der Europäischen Union die Verlängerung der Sanktionen gegen die Russische Föderation abzulehnen;
2. an der Konzeption für eine neue Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu arbeiten. Diese Konferenz muß den veränderten Bedingungen in Europa Rechnung tragen (…) und auf der Basis der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vorbereitet werden;
3. sich unmißverständlich gegen Konzepte eines „Regime Change“ in Rußland auszusprechen und unbewiesenen Vorwürfen und Propaganda-Aktionen entgegenzutreten, die eine Feindschaft zwischen dem Westen und Rußland befeuern sollen, unabhängig davon, ob sie aus den USA, Rußland oder anderen europäischen Staaten kommen; (…)
6. das Ziel einer neuen Sicherheits- und Entspannungspolitik in Europa, der Überwindung und letztlich die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein ziviles kollektives Sicherungssystem unter Einschluß von Rußland zu verfolgen. Um dies zu erreichen, muß als erstes eine Vereinbarung getroffen werden, keine neuen Mitglieder in die NATO aufzunehmen und die Stationierungslinie von NATO-Kräften auf das Maß zurückzuführen, das bei der deutschen Vereinigung verhandelt wurde. Ein Rückzug Deutschlands aus den militärischen Strukturen der NATO wäre ein einseitiges, jedoch sinnvolles Signal für eine Neuausrichtung der Sicherheitspolitik in Europa. (…)
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