Vom Stockholmer Appell zur Erklärung der „Göttinger 18“
Für eine Welt ohne Atomwaffen
Wenn am 12. April an die Erklärung von 18 Göttinger Professoren vor 60 Jahren gegen die atomare Aufrüstung erinnert wird, werden wir mit einer aktuellen Frage deutscher Außenpolitik konfrontiert. Die achtzehn Physiker, unter ihnen Nobelpreisträger, griffen öffentlich in die Diskussionen ein, die durch die Aktivitäten der Adenauer-Regierung provoziert worden waren.
Ehe wir näher auf sie eingehen, werfen wir einen Blick auf den Ausgangspunkt des Kampfes der internationalen Friedensbewegung gegen die Atomkriegspläne der USA.
Am 18. März 1950 unterzeichneten führende Mitglieder der Weltfriedensbewegung den „Stockholmer Appell“. Die Unterzeichner bekräftigten, daß sie in einer Welt ohne Atomwaffen leben möchten. Im Zusammenhang mit dem Stockholmer Appell entstand Picassos Friedenstaube, die ein Symbol der Friedensbewegung wurde. Sie begleitete die Friedensfahrt der Radfahrer, prägte das Bild ungezählter Kundgebungen und Demonstrationen. Viele neue Friedenslieder entstanden, welche die Aktivisten ermutigten und begeisterten. Weltweit unterschrieben den Appell mehr als
500 Millionen Menschen. Der Stockholmer Appell hat die Atomkriegsstrategen gebremst und die Adenauer-Regierung zum Taktieren gezwungen. Mitte der 50er preschte sie auf breiter Front vor. Am 20. März 1958 erklärte der zuständige Minister Franz Josef Strauß vor dem Bundestag, daß es für militärische Vorbereitungen „nur mehr einen einzigen Fall gäbe, das ist der Fall Rot und sonst kein Fall mehr in der Welt“. Wer von einer solchen Prämisse ausging, brauchte die NATO-Verbündeten, deren Hauptmächte das gleiche Ziel verfolgten, und geeignete eigene „moderne“ Waffen. Adenauer verniedlichte anfangs sein Begehren. Am 4. April 1957 ging der Kanzler mit der Erklärung an die Öffentlichkeit: „Die taktischen Atomwaffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, daß unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung mitmachen.“ Max Reimann, der KPD-Vorsitzende, nannte das Dummenfang.
Auch auf internationalem Gebiet blockte Adenauer alle Versuche ab, Europas Mitte atomwaffenfrei zu halten. In diesem politischen und historischen Umfeld meldeten sich die „Göttinger 18“ zu Wort.
Sie warnten vor den Plänen der Bundesregierung, die Bundeswehr mit atomaren Waffen auszurüsten. Sie stellten klar, daß taktische Atombomben inzwischen auch die Wirkung der Hiroshima-Bombe haben. Ein kleines Land wie die Bundesrepublik schützt sich am besten, wenn es auf Atomwaffen verzichtet. Die Unterzeichner erklärten, daß sie sich in keinem Fall an der Herstellung, Erprobung und am Einsatz von Atomwaffen beteiligen. Diese mutige Erklärung unterzeichneten Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Max Kopfermann, Max von Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Strassmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz. Die Erklärung wurde zwar von Strauß als „Schützenhilfe für Moskau“ denunziert, erhielt jedoch am 5. Mai 1957 Unterstützung durch 99 Wissenschaftler, die sich in einem offenen Brief an Adenauer mit den Göttingern soldarisierten, sowie durch die Vorsitzenden von DGB und IG Metall, Willi Richter und Otto Brenner, die den Appell unterzeichneten und propagierten. Kirchenpräsident Martin Niemöller, Probst Heinrich Grüber und andere Geistliche begrüßten die Göttinger Erklärung. Kommunisten wirkten trotz des Verbots ihrer Partei aktiv in der Friedensbewegung mit.
Die SPD war auf dem Weg nach Godesberg, aber noch nicht dort angekommen. Das zeigte sich auf dem Stuttgarter Parteitag, der vom 18. bis 23. Mai 1958 stattfand. Im Beschluß ist zu lesen: „Der Parteitag sieht in dem atomaren Wettrüsten in der Welt und den damit verbundenen zunehmenden Spannungen eine tödliche Gefahr für die Menschheit… Der Parteitag verurteilt den Beschluß der Bundestagsmehrheit vom 25. März 1958 über die atomare Ausrüstung der Bundeswehr.“
Der Streit um den „Griff nach der Bombe“ wurde häufig mit Erbitterung geführt. Ich erwähne einen Zwischenfall im Bundestag: Am 28. Januar 1958 trat dort Baron von Manteuffel-Szöge dafür ein, mit Atomwaffen das „Böse“ auszurotten. Es kam zu heftigen Wortgefechten. Die Schärfe der Debatten im Bundestag fand auch in einigen Medien ihre Widerspiegelung. „Der Spiegel“ wurde zum Vorreiter der Attacken auf die Pläne des Verteidigungsministers. Strauß ließ dessen Chefredakteur Rudolf Augstein in seinem Urlaubsort in Spanien wegen Hochverrats verhaften. Der Minister warf dem Kritiker auch 62 Beleidigungen vor, von denen das Gericht acht gelten ließ. Sozusagen mit richterlicher Genehmigung wiederholte Augstein: „In Franz Josef Strauß haben wir die Verkörperung jenes vielleicht für uns alle tödlichen Tatbestandes, daß die moralischen Kräfte der Menschheit mit ihren technischen nicht mitgehalten haben. Wer so redet, wer so denkt, wer so schreibt, der schießt auch.“ Ende der 50er Jahre war eine Situation entstanden, wie es sie in der Weltgeschichte noch nie gegeben hat. Eine politische Fehlentscheidung, eine falsche Einschätzung, ein technisches Versagen konnte das Ende der Menschheit bedeuten, und die beiden deutschen Staaten waren die Vorposten beider Systeme. An der Wende zu den 60er Jahren schrieb Lord Bertrand Russell, erster Präsident der englischen „Kampagne für nukleare Abrüstung“ (der Ausgangsbewegung auch der deutschen Ostermärsche), drei Bücher, in denen er die neue weltpolitische Lage erläuterte. In „Vernunft und Atomkrieg“ formulierte er die Hauptaufgabe für die Menschheit: „Es gibt gegen den irrsinnigen Wettlauf in den Tod nur ein Mittel: auf dem Absatz umzukehren und, statt in die totale Selbstvernichtung, dem Leben und der Zukunft entgegenzugehen.“ Das ist und bleibt das wichtigste Vermächtnis der „Göttinger 18“, Lord Russells und ihrer Mitstreiter.
Prof. Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker (1912–2007) gilt als Organisator der „Göttinger Erklärung“ von 1957. Er hatte sich als Physiker und Philosoph vor allem auf seinen wichtigsten Arbeitsgebieten – der Physik des Atomkerns, Astrophysik und Naturphilosophie – einen internationalen Ruf erworben.
Prof. Max Born (1882–1970), Nobelpreisträger. Sein Lebenswerk umfaßt 300 Schriften und über 20 Bücher in einem Dutzend Sprachen. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er 1933 gezwungen, die Göttinger Universität zu verlassen, emigrierte ins Ausland und kehrte erst 1954 zurück.
Prof. Werner Heisenberg (1901–1976), Nobelpreisträger für Physik 1932. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Atomphysik. Nachdem ihn seine Forschungsarbeiten mit Albert Einstein u. a. nach 1933 aus Deutschland emigrierten Wissenschaftlern zusammengebracht hatten, wurde Heisenberg im faschistischen Deutschland als „Weißer Jude der Wissenschaft“ und „Ossietzky der Physik“ angegriffen.
Prof. Otto Hahn (1879–1968), Entdecker der Uranspaltung und Nobelpreisträger für Chemie 1944. Otto Hahn war vor allem auf dem Gebiet der radiochemischen Forschung tätig und entdeckte schon als 28jähriger im Jahre 1905 ein neues radioaktives Element (Radiothor) und vier weitere Elemente, die wegen ihrer besonderen Eigenschaften große Bedeutung für die Medizin erlangten.
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