Ist die Türkei auf dem Weg
zu einem islamistischen Faschismus?
Fußtritte von Erdogans rechter Hand
Die Bilder gingen um die Welt und ließen allen, die sie sahen, den Atem stocken. Kurz nach der schwersten Bergwerkskatastrophe in der Geschichte der Türkei, die sich am 13. Mai in Soma ereignet hatte, war der Regierungschef an den Ort des furchtbaren Geschehens gefahren und hatte gerade eine Heuchel-Show abgezogen, als sein enger persönlicher Berater Yusuf Yerkel in Aktion trat. Er tat das im Wortsinne. Der elegant gekleidete junge Mann trat nämlich einen durch Sicherheitsleute zu Boden geworfenen Demonstranten in den Leib.
In Soma, wo sich die landesgrößten Braunkohle-Abbaureviere unter Tage befinden, waren am Unglückstag etwa 800 Kumpel in der Grube, als es durch Verschulden des Managements zu einem Elektrodefekt kam, der sofort einen heftigen Brand auslöste. Die in der Monoxyd-Falle Steckenden verfügten ebenso wie die ihnen zu Hilfe eilenden Angehörigen der Grubenwehr nicht über intakte Schutzmasken. Obwohl die Bosse des privatisierten Unternehmens, das jährlich 5,5 Millionen Tonnen Braunkohle fördert, ohne Unterlaß beteuerten, es gäbe in der ganzen Türkei kein besser gesichertes Bergwerk als das von Soma, und die Arbeitsschutzbedingungen der mit lediglich 250 Euro Monatslohn abgespeisten Kumpel seien geradezu ideal, konnten ihnen schwerste Versäumnisse nachgewiesen werden. So waren die Gasdetektoren nicht eingeschaltet. Hätten sie funktioniert, wäre es niemals zu einem derart folgenschweren Desaster gekommen. Die laut Vorschrift alle 15 Tage vorzunehmende Kontrolle der Schutzmasken gegen Kohlenmonoxyd und andere giftige Gase hatte schon seit Monaten nicht mehr stattgefunden. Überdies verzichteten die Sicherheitsinspektoren darauf, außer den Hauptstrecken auch die Seitenstollen im Auge zu behalten.
Doch nach dem Eintreffen Recep Tayyip Erdoĝans in Soma erfuhr das Drama eine neue Dimension. Der Ministerpräsident wurde mit Sprechchören „Tayyip Mörder!“ empfangen, als er sich am 14. Mai in Soma zeigte. Nachdem er auf einer Pressekonferenz angesichts der zahlreichen Toten und der zu dieser Stunde noch vermißten Bergleute zu erklären gewagt hatte, „solche Dinge“ würden unter Tage „eben passieren“, ließ sich die Wut der Kumpel nicht länger zügeln. Familienangehörige der 301 Opfer forderten lautstark seinen Rücktritt. Erdoĝan flüchtete daraufhin in einen Supermarkt, während die Menge das örtliche Büro der Partei des Premiers demolierte. Nachdem der AKP-Provinzgouverneur sofort jede Manifestation untersagt hatte, ging die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Trauergemeinde vor. Acht in Soma eingetroffene Mitglieder einer linken Anwaltsvereinigung, die Angehörigen der Opfer ihren Beistand anbieten wollten, wurden an Ort und Stelle festgenommen.
Nachdem die Bilder von der Fußtritt-Attacke des Erdoĝan-Assistenten Yerkel weltweit Verbreitung gefunden hatten, kam es in Istanbul. Ankara und anderen Städten zu spontanen Protestdemonstrationen. Bei den von ihrer akzentuiert rechtsgerichteten Regierung Schlimmstes gewöhnten Türken schlugen die Wogen der Empörung noch höher als sonst. In Istanbul erzwangen Studenten der Bergbaufakultät den Rücktritt eines Professors, der das qualvolle Ersticken der Arbeiter als „süßen Tod“ bezeichnet hatte.
Unter dem Druck der Massenaktionen mußten schließlich fünf Soma-Manager, die tags zuvor noch auf einer Pressekonferenz großspurig ihre Schuldlosigkeit beteuert hatten, festgenommen werden. Gegen den Milliardär Alp Gürkan – Patron der Soma-Holding – wurde jedoch kein Strafverfahren eingeleitet. Der Oberboß hatte bei der 2005 erfolgten Privatisierung sämtlicher Bergwerke der Türkei eine Schlüsselrolle gespielt und selbst den fettesten Happen erwischt. Als er 2012 interviewt wurde, rühmte sich Gürkan, die Produktionskosten pro Tonne Braunkohle in Soma von 120 auf 25 Dollar heruntergedrückt zu haben – „dank der Funktionsmethoden des privaten Sektors“. Mit anderen Worten: der auf Tiefststand heruntergefahrenen Löhne. „Die Privatisierung hat die Bergleute getötet“ überschrieb die französische Zeitung „Le Soir“ am 14. Mai ihren Bericht.
Nur neun Monate vor der Katastrophe von Soma hatte Erdoĝans Energieminister Taner Yildiz „das hohe Niveau der Sicherheitsmaßnahmen und die neue Technologie in Soma“ ausdrücklich gelobt.
Nach dem verheerenden Unglück hielt die immer offener faschistoide Züge annehmende islamistische Regierung ihre Position aufrecht. Statt die Schuldigen zu geißeln, behauptete sie noch einmal, die betroffenen Gruben seien „die sichersten in der ganzen Türkei“ gewesen.
„Es handelt sich um organisiertes Verbrechen“, stellte die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) fest. „Unser ganzes Land ist zu einer kriminellen Szene geworden. Der Durst des Patronats nach Profit hat zu dem Massaker von Soma geführt.“ Die Regierung in Ankara sei dabei als Anstifterin zu betrachten. Die türkische Bergbauindustrie müsse wieder nationalisiert und vollständig unter Arbeiterkontrolle gestellt werden.
RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel
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