RotFuchs 207 – April 2015

„Freiheit, die ich meine, Deine oder meine, darum dreht es sich“

Gaucklereien und die
Substanz eines Begriffs

Ulrich Guhl

Zu den in der BRD am häufigsten strapazierten und zugleich fehlinterpretierten Vokabeln gehört das Wort Freiheit. Ihrer bedient sich mit besonderer Vorliebe ein früherer Großinquisitor, der jetzt den Hausherrn im Schloß Bellevue gibt. Er benutzt sie vor allem im Zusammenhang mit seinem pathologischen Haß auf die DDR, die der einst als durchaus kontaktfreudig bekanntgewesene frühere Nutznießer nicht weniger Vorteile des „Ostens“ nun als Hort der Unfreiheit zu diffamieren sucht.

Wenn man mit offenen Augen durch unsere Städte fährt, kann man sehen, wie sie die kapitalistische Gesellschaftsordnung der BRD in mancher Hinsicht auf den Hund gebracht hat: Man erlebt Flaschensammler, Obdachlose und eine Vielzahl von Menschen, deren Freiheit allein darin besteht, im täglichen Überlebenskampf durchzuhalten. Das Elend in meinem Umfeld veranlaßt mich zu der Frage, worin eigentlich die Freiheit solcher Menschen besteht, die zu den „Unterprivilegierten“ dieser Gesellschaft gehören. Zunächst einmal muß korrekterweise anerkannt werden, daß in der zwar immer stärker nach rechts driftenden, derzeit aber als Staat nicht faschistoiden BRD den Bürgern gewisse individuelle Freiheiten gewährt werden. Ich kann meine politische Meinung recht offen sagen, allerdings in der Regel nicht am Arbeitsplatz. Ich honoriere auch die Tatsache, daß ich eine Zeitschrift wie den „RotFuchs“ vorerst ohne Einschränkungen beziehen und als Autor unterstützen darf. Andererseits gab es in der DDR neben berechtigten Einschränkungen auch eine Reihe unnötiger Beschneidungen der persönlichen Freiheit, wodurch niemand mehr geschädigt worden ist als die DDR selbst. Unter Anspielung darauf strapaziert Gauck seinen bewußt abstrakt gehaltenen Freiheitsbegriff in geradezu pathologischer Weise.

Aber sind die Dinge wirklich so simpel, wie sie sich im Gehirn dieses ehemaligen Pfarrers sortieren? Mir scheint, daß die von Gauck empfundene Freiheit eine völlig andere ist als die des bereits erwähnten Obdachlosen. Denn Freiheit ist durchaus kein klassenindifferenter Begriff, der unterschiedslos angewandt werden kann. Niemand wird doch bestreiten, daß eine gewaltige Differenz  zwischen dem Handlungsspielraum und den Rechten eines Fabrikbesitzers auf der einen und denen seiner Arbeiter auf der anderen Seite besteht. Ist es nicht grotesk, ihnen bescheinigen zu wollen, daß sie über schier grenzenlose Entfaltungsmöglichkeiten verfügten? Während der Unternehmer genau jenes Maß an Freiheit besitzt, das er anderen entzogen hat, garantiert Gaucks alleinseligmachendes Paradies nur wenigen, Profit aus der Arbeit der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft zu ziehen. Millionen sind gezwungen, ihren „Arbeitgebern“ jedes Stückchen Freiheit in erbittertem Kampf abzutrotzen. Die Kapitalisten können ihre Proletarier jederzeit in die Freiheit der Erwerbslosigkeit entlassen.

Gauck unterschlägt in seinen Lobeshymnen auf die bürgerliche Gesellschaft die fundamentale Tatsache, daß die herrschende Klasse ihre sie privilegierenden Freiheiten niemals von sich aus mit den Arbeitern und Bauern zu teilen bereit gewesen ist. Es bedurfte mehrerer Jahrhunderte, um sie den Ausbeutern abzuringen. Die diesen Kampf angeführt haben, waren oftmals gerade jene, welche Gauck am meisten haßt: Sozialisten und Kommunisten. Ausgerechnet die Früchte ihres Kampfes vereinnahmt der Herr von Bellevue für seine Propaganda, was man als Gipfel der Unmoral bezeichnen könnte. Mit Hilfe der fest in Händen einer winzigen Minderheit befindlichen Medien ist es gelungen, den Irrtum zu verbreiten, die Bourgeoisie stelle die eigentliche Hüterin der Freiheit dar. Dabei steht ihr Gesellschaftsmodell für Krieg, Kolonialismus und Hunger großer Teile der Menschheit, für Giftgas und Drohnen.

Gaucks Freiheitsverständnis soll uns vom Drängen nach wirklicher Befreiung abhalten. Dabei wirkt es wie eine Droge. Unter Freiheit wird die Sucht nach ungebremstem Konsum und hemmungslosem Egoismus verstanden, die man schönfärberisch als „Selbstverwirklichung“ bezeichnet. Diese Vorstellung von Freiheit erzeugt einen Tunnelblick, der nur noch eigene tatsächliche oder vermeintliche Bedürfnisse wahrnimmt und die Sicht auf gesellschaftliche Mißstände versperrt.

Ich habe mich oft über Menschen aus der alten BRD amüsiert, die – selbst auf Krücken gehend – mir den aufrechten Gang erklären wollten und die ich anschließend vor ihren Vorgesetzten katzbuckeln sah.

Man darf nicht verkennen, daß die im Grundgesetz festgeschriebenen Rechte in uns ein Gefühl garantierter Freiheit erzeugen sollen. Ja, gegen Kriege der Imperialisten kann man noch demonstrieren. Doch diese Freiheit, die allzuoft der Polizeiknüppel beendet, dient lediglich als Ventil. Der Kapitalismus ist lernfähig und nutzt unterdessen sogar Protestbewegungen bisweilen als eine Art Placebo.

Doch zurück zum Obdachlosen und zum Flaschensammler. Schon 1898 schrieb Johann Gottfried Seume: „Gleichheit ist immer der Probestein der Gerechtigkeit, und beide machen das Wesen der Freiheit.“ Mit anderen Worten: Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit. Gauck unterschlägt mit dem Verzicht auf diese Einheit die entscheidende Voraussetzung der Freiheit. Eine Gesellschaft, in der schreiende Ungerechtigkeit zur Norm geworden ist, basiert auf Unfreiheit. Denn echte Freiheit ist nur möglich, wenn man sie den Feinden der Freiheit entzieht, die ihre grenzenlose Gier auf Kosten der Allgemeinheit ausleben. Dazu aber bedarf es einer Gesellschaft, in der die entscheidenden Produktionsmittel und natürlichen Reichtümer allen gehören und die Ausbeuterklassen ihre politische Macht über die Mehrheit verloren haben. Genau das war in der DDR der Fall.