Gedanken zur Vorweihnachtszeit
Schlägt man die Zeitung auf, so liest man, daß die Armut in der reichen BRD immer mehr ansteigt. Vor allem trifft es ältere Menschen, Kinder und Flüchtlinge.
Da werde ich oft an meine Kindheit erinnert, als meine Mutter mir sehr oft sagen mußte: „Das können wir uns nicht leisten, dazu haben wir kein Geld.“
Meine Eltern waren einfache Arbeiter, Vater ab 1933 bis kurz vor dem Krieg erwerbslos. Er wurde oft zu irgendwelchen Arbeiten verpflichtet, damit wir Unterstützung erhielten. Mutter hatte eine Hausmeisterstelle übernommen, dadurch wohnten wir in Stube und Küche mietfrei.
Ich war ein aufgewecktes und lernbegieriges Kind, aber nicht getauft, wodurch ich in der konfessionell geprägten Bildungslandschaft Breslaus als Außenseiterin galt. Hausdurchsuchungen und das Leben unserer Familie und der Freunde meiner Eltern, die ebenfalls keine Faschisten waren, lehrten mich schon bald, sehr vorsichtig im Umgang mit anderen Menschen zu sein. Sobald ich lesen konnte, schnüffelte ich im Bücherschrank meines Vaters. Ich erinnere mich an die Lektüre von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – ein Werk, das ich zwar las, aber noch nicht richtig verstand. Meine Eltern, welche die Liebe zur Literatur in mir fördern wollten, schenkten mir zu meinem zehnten Geburtstag (1941!) ein Buch für mich ganz allein. Es hieß „Proletarischer Kindergarten“.
Mit dem Geschenk verbunden war die Ermahnung, weder in der Schule noch Fremden gegenüber dieses Buch je zu erwähnen und es immer, wenn ich nicht gerade darin läse, an einen bestimmten Platz zu tun. Der „Proletarische Kindergarten“ trug – natürlich neben der Erziehung im Elternhaus – wesentlich zu meiner humanistischen Weltanschauung, zu Friedensliebe und der Hoffnung auf eine gerechtere Welt ohne Hunger und Krieg bei. In Erinnerung blieb mir stets das Gedicht „Die Proletariermutter“, obgleich für mich in der DDR ein völlig neues, nach Überwindung der Kriegsfolgen und des daraus resultierenden Hungers erfülltes Leben begann.
Da all unsere Sachen in Schlesien zurückgeblieben waren, denn wir Kinder wurden von den Eltern durch den Krieg getrennt, und meine Mutter fand meine Schwester und mich dann im Treck der Bauern, bei denen wir untergebracht waren, besaß ich nur die Erinnerung an das Buch und dessen Inhalt. Alle Nachforschungen blieben erfolglos, selbst Markus Wolf kannte es nicht, als ich ihn danach fragte. Mutter glaubte nämlich, daß dessen Vater Friedrich Wolf es geschrieben hätte, aber der Autor war – wie sich herausstellte – Ernst Friedrich.
Durch Zufall wurde ein Genosse darauf aufmerksam, daß in einem Hamburger Antiquariat ein einziges, recht teures Exemplar des „Proletarische Kindergartens“ vorhanden sei. Zu meinem 75. Geburtstag schenkten mir meine Kinder dieses Buch, das mich einst begleitet hatte. Noch oftmals nehme ich es zur Hand und lese darin, denn es ist heute noch genauso aktuell wie damals. Nie hätte ich zu DDR-Zeiten je daran gedacht, daß die folgenden Verse, die das Leben auch meiner eigenen Kindheit schildern, im heutigen Deutschland wieder das Dasein so vieler Menschen beschreiben würden.
Die Proletariermutter
Am Weihnachtsabend, trüb und matt,
Geht durch die Straßen der großen Stadt,
Dort, wo die Läden am hellsten sind,
Eine Arbeiterfrau mit ihrem Kind.
„O, Mutter, sieh! Der Weihnachtsmann
Mit Tannenbaum und Lichtern dran!“
Laß brennen, Kind, der helle Schein
Dringt nicht in unsre Not hinein.
„O, Mutter, sieh! Das Schaukelpferd,
Das wird gewiß für mich beschert!“
Laß ab, mein Kind, der schöne Tand
Ist nicht gemacht für Deine Hand.
„O, Mutter, sieh! Der Nikolaus,
Der trägt ein ganzes Kuchenhaus!“
Schweig, Kind, nicht Kuchen tut uns not,
Uns fehlt zu Haus das trockne Brot.
„Ach, liebe Mutter, all die Pracht,
ist sie nicht auch für mich gemacht?“
Mein Kind, der Glanz von diesem Licht,
Zu armen Kindern dringt er nicht.
„Ach, liebe Mutter, hilft denn Gott
Nicht auch den Armen aus der Not?“
Nein, nein, mein Kind, bei meinem Schwur:
Er ist ein Gott der Reichen nur!
Da birgt das Kind vor Herzeleid
Das Köpfchen an der Mutter Kleid.
Und hell erklinget weit und breit
Das „Freue Dich, o Christenheit!“
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