RotFuchs 197 – Juni 2014

Wie Brüssel das griechische Gesundheitswesen krankpflegt

Gefahr für Leib und Leben

RotFuchs-Redaktion

Ein Drittel der griechischen Bevölkerung ist heute nicht krankenversichert und besitzt de facto keinen Zugang zu regulärer medizinischer Betreuung. Tausenden und aber Tausenden Kindern werden Impfungen verweigert. Befragt, ob dadurch die Gesundheit der Hellenen auf dem Spiel stehe, gab die Athener Krankenschwester Olga Siantou vom Sekretariat der den Kommunisten nahestehenden klassenkämpferischen Arbeiterzentrale PAME – sie gehört zugleich dem Generalrat der Gewerkschaftsdachorganisation im Öffentlichen Dienst Beschäftigter (ADEDY) an – in einem Interview Auskunft.

Hier das Resümee: Der durch die EU verordnete griechische Staatshaushalt sieht für 2014 eine neuerliche Kürzung der Ausgaben für soziale Zwecke um 12,5 %, der Mittel für das öffentliche Gesundheitswesen sogar um 19,7 % vor. Das Budget für Krankenhäuser verringert sich um 32 %. Das sind mindestens fünf Milliarden Euro!

Diese Zahlen lassen den Schrecken indes nur ahnen, der in die Hospitäler der öffentlichen Hand Einzug gehalten hat. Am empfindlichsten sind natürlich die Wohnbezirke der sogenannten einfachen Leute betroffen, während die griechische Bourgeoisie ihr Schäfchen auch diesmal ins trockene bringt.

Die Notaufnahme des Athener Evangelismos-Krankenhauses, das zu den größten Einrichtungen des Gesundheitswesens der griechischen Metropole zählt, erinnert inzwischen an einen Hauptverbandsplatz nach blutigen Schlachten. Unter der Koalitionsregierung aus konservativer Neuer Demokratie und rechtssozialdemokratischer PASOK sind etliche Athener Hospitäler geschlossen worden. Viele Menschen sterben, da sie überhaupt keine oder eine erst maßlos verzögerte Aufnahme bei übriggebliebenen Einrichtungen finden. Vor allem der Mangel an Personal fordert viele Opfer. So verfügt z. B. das auf die Behandlung von Krebspatienten spezialisierte Métaxa-Hospital nur über 50 % der im Stellenplan vorgesehenen Mitarbeiter. Auf Beschluß des Gesundheitsministeriums wurden sämtliche 250 staatlichen Polikliniken der Einheitskrankenkasse EOPYY geschlossen, wodurch 8000 Mitarbeiter auf die Straße flogen.

In zahlreichen Fällen sind die in stark reduzierter Zahl zur Verfügung stehenden Betten nicht mit den notwendigen Gerätschaften ausgestattet. Landesweit wurden mehr als 10 000 Betten „eingespart“. Etliche Patienten verlassen die Hospitäler vorzeitig, weil sie die hohen Untersuchungs- und Behandlungskosten nicht aus eigener Tasche aufbringen können. Andere fühlen sich außerstande, teure Medikamente zu erwerben.

Natürlich spielt bei all dem auch die enorm gestiegene Arbeitslosigkeit eine große Rolle. Bei einem europäischen Durchschnitt von 12,1 % lag sie in Griechenland im November 2013 bei 28 %, die der jungen Erwerbsfähigen betrug sogar 61,4 %!

Während die Kosten versicherter Patienten in der Regel durch die Kassen übernommen werden, müssen Nichtversicherte entweder sofort dafür aufkommen oder eine „Bereitschaftserklärung“ zu späterer Schuldenbegleichung unterschreiben. Mammographien und pränatale Untersuchungen schwangerer Frauen fallen aus den vom Staat finanzierten Leistungen ebenso heraus wie Ultraschall-Anwendungen.

Die Einrichtungen des Gesundheitswesens stehen unter dem permanenten Preisdruck der Pharmakonzerne und ähnlich strukturierter Lieferanten von sanitärem Material, was sie zu möglichst preisgünstigen Lösungen greifen läßt.

Nach der Spezifik von Sparmaßnahmen im griechischen Gesundheitswesen befragt, erklärte Olga Siantou: In erster Linie betreiben die das Krankenhaus-Busineß Fördernden im Athener Machtapparat die Kürzung der Bezüge des Personals, die Erhöhung kostensparender Flexibilität der Arbeitszeiten von Ärzten und Pflegekräften, die Unterdrückung von Kollektivverträgen, die Steigerung der abzuleistenden Stundenzahl ohne zusätzliche Vergütung, die Verzögerung des Renteneintrittsalters, eine „Liberalisierung“ der Entlassungsmöglichkeiten, die Heraufsetzung der Medikamentenpreise für die Patienten, Einschnitte im öffentlichen Gesundheitsdienst und bei der Sozialversicherung sowie die Verteuerung von Energie und warmem Wasser.

Die Ärzte sind gehalten, in geeigneten Fällen Kranken die Verlegung in besser ausgerüstete und bequemer eingerichtete Privatkliniken zu empfehlen. Beim Ausfall von Geräten in öffentlichen Hospitälern wird ein zu Untersuchender generell an sie überwiesen.

Besonders übel sind in Hellas die Immigranten und deren Kinder dran. Ihre Diskriminierung ist offenkundig. So zahlt eine nichtversicherte Griechin für die Aufnahme in einem öffentlichen Krankenhaus etwa 1000 Euro. Eine eingewanderte Frau hat für die gleichen Leistungen das Doppelte auf den Tisch zu legen.

In Griechenland betrachtet man die Gesundheit als „Privatangelegenheit“ der Bürger. In dem 2007 von der EU beschlossenen Weißbuch zum Thema Gesundheit heißt es, der Zugang zu den entsprechenden Dienstleistungen sei „eine persönliche Angelegenheit jedes einzelnen“.

Olga Siantou kann diesen Standpunkt des Europas der Patrone natürlich nicht akzeptieren. „Die Gesundheit ist ganz einfach schon deshalb keine Privatangelegenheit, weil die physische Verfaßtheit der Menschen ganz entscheidend mit den Produktionsverhältnissen, dem sozialen Umfeld und den Arbeitsbedingungen, dem Zugang zur Bildung, der Ernährung und den Wohnverhältnissen zusammenhängt. Entsprechen diese Voraussetzungen nicht den Erfordernissen, verschlechtert sich die Gesundheit, so daß sanitäre Dienstleistungen, Krankenhausaufnahme, Medikamenteneinsatz und Ärzte erforderlich werden.“

Die Folgen der Athen durch Brüssel verordneten Politik sind beweisbar. Von 2008 bis 2010 stieg die Säuglingssterblichkeit in Hellas um 43 %. Fast ein Drittel der nicht altersbedingten Todesfälle ist auf die Krise zurückzuführen. Zwischen 2007 und 2011 nahm die Zahl der Selbstmorde um 45 % zu.

RF, gestützt auf „Solidaire“