Ein christlicher Staatsmann der DDR,
der sozialistischen Ideen bis zuletzt treu blieb
Gerald Götting zum Gedenken
Am 27. Mai wurde im engsten Familien- und Freundeskreis ein bedeutender Mitgestalter der Deutschen Demokratischen Republik, ihrer sozialistischen Entwicklung und Geschichte, zur letzten Ruhe geleitet. Im 92. Jahr hat sich sein Leben vollendet. Ausgangspunkt seines Denkens und Handelns war die Erkenntnis, daß es nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands im Jahr 1945 nur diesen einen Weg geben könne: Entwicklung und Ausformung einer sozialistischen Demokratie!
Dies Werk zu beginnen, zu gestalten, aufzubauen, allen Widerständen zum Trotz durchzuhalten, wurde zum Inhalt seiner Mitarbeit! Diesen Weg ist Gerald Götting aus einer christlich-humanistischen Überzeugung gegangen. Dabei leitete ihn die Erkenntnis seines großen politischen Vorbilds Otto Nuschke – des ersten Parteivorsitzenden der christlich-demokratischen Partei in der DDR: „Je fester ein Christ in seiner weltanschaulichen Überzeugung lebt, und je fester ein Marxist seine Überzeugung vertritt, um so ehrlicher wird das politische Handeln zum Wohle aller gelingen.“
Die hohe Begabung und der überzeugende Wille, die Fähigkeit zu argumentieren, auszugleichen, Erkanntes weiterzuvermitteln, aber auch Probleme zur Sprache zu bringen, geduldig zuzuhören – dies zeichnete ihn besonders aus.
Mit 28 Jahren wurde er Generalsekretär der CDU, seit 1966 war er deren Parteivorsitzender. Im gleichen Jahr wurde er zum Volkskammerpräsidenten gewählt. Er war Präsident der Liga für Völkerfreundschaft der DDR, gehörte dem Präsidium des Nationalrats der Nationalen Front an und übte andere Funktionen aus. Ein arbeitsreiches Leben hat sich nun vollendet. Gerald Götting blieb bis zum Untergang der DDR seiner Überzeugung treu.
Für ihn bildeten Christentum und Sozialismus eine Lebensaufgabe. Die theologischen Erkenntnisse von Karl Barth, Emil Fuchs, Josef Hromadka sowie der kirchenpolitische Widerstandskampf der Bekennenden Kirche von 1934 bis 1945 wie die persönliche Freundschaft zu Martin Niemöller – dies alles gehörte zu den Grundlagen seiner persönlichen Erfahrungen, die er Zeit seines Lebens weitergab.
Gerald Göttings vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Staatssekretären für Kirchenfragen der DDR, Hans Seigewasser und Klaus Gysi, sowie die engen Kontakte zu den Theologischen Fakultäten und den Kirchenleitungen müßten in einem anderen Rahmen gründlicher aufgearbeitet werden.
Seit über 60 Jahren bestand zwischen uns eine enge persönliche Freundschaft. Wer Gerald Götting näher kannte, wußte auch, wie sehr ihn Probleme in den letzten Jahren seines Lebens im Rückblick beschäftigten, aber auch immer wieder zum Nachdenken veranlaßten.
Er fand innere Ruhe in seinem fest verankerten christlichen Bewußtsein und seiner persönlichen Glaubenshaltung. Sein bleibendes Verdienst ist die Erkenntnis, daß dem Sozialismus als Gesellschaftsformation die Zukunft gehört, wenn die Menschheit überleben will. Welche Formen dieser haben wird, muß die Zukunft erweisen.
Durch welche Krisen wirtschaftlicher, finanzieller und soziologischer Art wie länderübergreifende Konflikte die Menschheit hindurchgeht, wird derzeit in besonders gravierender Weise sichtbar. Es bedarf einer Kulturphilosophie, die in globalem Maßstab alle Bereiche des Lebens erfaßt, um nicht in Tiefen hinabzusinken, die zu chaotischen Zuständen führen.
Es geht um eine neue weltumspannende Ethik für alle Sphären menschlicher Existenz, um eine sozialistische Lebensordnung auf der ganzen Erde. Darin besteht die Aufgabe der Zukunft. Dies waren Gedanken des Verstorbenen in der letzten Phase seines irdischen Lebens.
Gerald Göttings Verhältnis zu Albert Schweitzer – die persönliche Freundschaft, die Jahrzehnte zurückreicht – waren innerster Besitz seines Daseins. Mehrmals besuchte Gerald Götting das afrikanische Lambarene und studierte Schweitzers Arbeit vor Ort. Der Briefwechsel mit dem „Grand Docteur“, wie man ihn dort nannte, über dessen theologische Arbeit und Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, hielt bis zuletzt an.
Gerald Götting hat mit Kraft und Erfolg dafür geworben, daß die Erkenntnisse des bedeutenden Theologen und Humanisten in der Deutschen Demokratischen Republik weithin Verbreitung fanden. Etliche Schulen, Produktionsgemeinschaften und gesellschaftliche Einrichtungen trugen im sozialistischen deutschen Staat den Namen Albert Schweitzers.
An dieser Stelle sei gewürdigt, wie überzeugend und nachdrücklich Gerald Göttings Einsatz für ein gutes Verhältnis der Kirchen in der DDR zum Ausland war. Besonders zu den Glaubensgemeinschaften in der UdSSR pflegte er enge Beziehungen. Die vielen Begegnungen mit Würdenträgern der Russisch-Orthodoxen Kirche führten zu gegenseitiger Hilfe und enger Partnerschaft. Die Auszeichnung mit dem „Wladimir-Orden“ brachte dies besonders deutlich zum Ausdruck.
Wir haben still Abschied von ihm genommen. Es war sein Wunsch. Das Licht der Gedanken wurde ihm bis zum Schluß geschenkt.
Er konnte weit zurückblicken, hatte viel erlebt im Wirken einer ganzen Nation, an dem er in wesentlichem Maße mitgestaltend und in hohen Positionen beteiligt war, wobei er Fehlentwicklungen mit durchlitt und Enttäuschungen ertrug.
Die liebevolle Hingebung und treue Pflege seiner Gattin hat diese letzte Wegstrecke erleichtert.
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof hat Gerald Götting seine letzte Ruhestätte gefunden – nahe der Gräber von Johannes Dieckmann, Otto Nuschke und August Bach.
Eines ist gewiß: Sein Wirken geht in die Geschichte Nachkriegsdeutschlands ein und gehört zu den ganz positiven Seiten unseres 1990 untergegangenen friedliebenden deutschen Staates DDR.
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