Beherzte „Anfrage“ des Hamburger
Schriftstellers Christian Geissler
Geschichte einer exemplarischen Aktion
Der 1961 erschienene Roman-Erstling des Hamburger Autors Christian Geissler (1928–2008) heißt „Anfrage“. Er fordert darin Auskunft über Täterschaft und Mitschuld der Väter an faschistischen Verbrechen. Held der Handlung ist der junge westdeutsche Physiker Klaus Köhler. Hartnäckig fragend deckt er das Geheimnis um seine Arbeitsstätte auf. Das villenartige Institutsgebäude war bis 1938 Wohnstätte einer jüdischen Familie, deren Mitglieder entrechtet, vertrieben und ermordet wurden. Als der junge Schriftsteller Christian Geissler künstlerisch-außerparlamentarisch seine „Anfrage“ stellte, hoffte er erklärtermaßen noch auf die bürgerliche Demokratie. Doch in seinem 1976 erschienenen Roman „Wird Zeit, daß wir leben“ zeigt sich, daß Geissler den begonnenen Lern- und Entwicklungsweg kompromißlos weiter beschritten hat. Er geht der Vorgeschichte jener beispiellosen Verbrechen nach, welche die Faschisten bereits vor und besonders nach der Machtauslieferung an Hitler – zuerst an Kommunisten und Sozialdemokraten – begingen.
Klaus Köhler trägt die Last einer beschädigten Kindheit: Sein Mitläufer-Vater leugnet jede Verantwortung, und mit ihm die Mehrheit der Hausbewohner, Verwandten oder Institutskollegen. Besessen vom Willen nach Gerechtigkeit für die vertriebenen und ermordeten Mitglieder der Familie Valentin geht Köhler auf Wahrheitssuche. Doch bei den im Zuge seiner Nachforschungen Befragten stößt er zumeist auf Unwillen oder verstocktes Leugnen, schamhaftes Schweigen oder offene Feindseligkeit. Nur Köhlers Kollege Steinhoff, der alte Gärtner Mollwitz, später auch ein amerikanischer Gast des physikalischen Instituts sowie eine junge Ärztin bestärken Köhler bei der zunehmend nachdrücklicher gestellten „Anfrage“.
Schließlich gelingt es, einen der SS-Männer zu überführen, welche die Valentins aus ihrem Zuhause und in den Tod getrieben hatten: Einen Herrn namens Lützel – den bieder-unauffälligen Nachbarn und hingebungsvollen Vater eines 10jährigen Kindes. Die Justizbehörden, zum Handeln genötigt, folgen bereitwilligst dem Antrag der Verteidigung auf Schuldunfähigkeit. Doch Lützel protestiert: „Ich habe einen Sohn. Es ist besser für einen Sohn, er hat einen schuldigen Vater, der seine Schuld kennt, als einen nicht zurechnungsfähigen Vater.“ So benennt Geissler die seelischen Nöte der nachdenklichen Nachkommen jener Täter-Generation, das Verzweifeln an den Verhältnissen in der Altnazi-Republik Globkes, Lübkes und Filbingers. Wenige Jahre später sollte die jugendliche Empörung in die 68er Rebellion münden und einen „Deutschen Herbst“ heraufbeschwören: „… daß der Gestank … endlich verzieht! Es sammeln sich Gase. Die Explosion wird bunt sein wie ein Feuerwerk. … Wir, die Söhne und Enkel, wir werden zuschauen und sagen: sieh mal, die roten Stichflammen, wie hübsch!“
Einflußreiche bundesdeutsche Publizisten, namentlich biographisch Betroffene wie Marcel Reich-Ranicki und Ralph Giordano, spendeten dem Verfasser der „Anfrage“ überschwenglichen Beifall. Geissler hätte durchstarten können in eine Karriere wie die der hochgelobten Literaten Günter Grass oder Siegfried Lenz. Doch Geissler fuhr fort mit dem Forschen nach den tieferen Ursachen von faschistischem Terror. Und folgerichtig ergriff er Partei für jene, die den Mördern von Anfang an und am entschiedensten widerstanden: die Genossinnen und Genossen der KPD. Der zu dichterischer Meisterschaft gereifte Chronist erzählt aus dem Inneren der Parteibasis. Aufwendige Recherchen bei Zeitzeugen haben es Christian Geissler ermöglicht, diese Perspektive einzunehmen.
Im Mittelpunkt des Netzwerkes aus ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfern des Hamburger Aufstandes stehen der Arbeitersohn Leo Kantfisch und Karo, die rebellische, kluge Tochter einer ledigen Landarbeiterin. Leo ist Polizist geworden, weil er dem daran geknüpften, trügerischen Versprechen getraut hatte, später Afrikanistik studieren zu können.
Die Parteimitglieder um den KPD-Funktionär Schlosser bewegt die Frage, ob die strukturelle Gewalt der Ausbeutung zur gewaltsamen Gegenwehr berechtigt. Schlosser agitiert beharrlich dafür, sich niemals provozieren zu lassen. „… wenn das Volk in Betrieben und Straßen und Höfen seine Lage erkennt, dann steht eine Kraft in der Welt, die deine paar Flinten gar nicht mehr braucht. Dann sollen es Arbeiterfäuste und rote Fahnen sein.“
Doch das Volk erkennt nicht, sondern die Feinde triumphieren, und Hunderttausende Verführte jubeln. Leo und Karo müssen erleben, wie die Genossinnen und Genossen nacheinander hinterrücks ermordet werden. Karo wird zusammen mit ihrer Freundin Pudel, einem Straßenmädchen, wegen „Sitte“ statt als Politische gefaßt und inhaftiert. Als die Wachleute bei der Entlassungskandidatin Pudel einen Kassiber finden, der Karos Botschaften an die Genossen enthält, entzieht sich Pudel dem Folterverhör durch einen Todessprung, und Karo kommt unerkannt frei. Umgeben von Verrätern und Mordbrennern, inmitten aller scheinbaren Ausweglosigkeit und voller Sehnsucht nach Leben, verlieben sich Leo und Karo ineinander. Sie fassen gemeinsam einen todesmutigen Entschluß. Umsichtig bereiten sie die Befreiung von Schlosser und anderen eingekerkerten Genossen vor.
Christian Geissler hat die Geschichte nach einer wahren Begebenheit gestaltet: Der Polizeibewacher, der die Befreiung plante, hieß Bruno Meyer, Karo ist Meyers Geliebte Christa Rom, und die zu rettenden führenden Genossen waren Etkar André und Fiete Schulze. In Geisslers Dichtung gelingt der Plan, in Wahrheit nicht: Etkar André und Fiete Schulze fielen wie Tausende Kommunisten den faschistischen Mördern zum Opfer.
Der Berliner Verbrecher-Verlag hat Geisslers Buch mit dem Untertitel „Geschichte einer exemplarischen Aktion“ 2013 neu herausgebracht. Es ist reich mit informativen Dokumenten ausgestattet.
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