Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Das Leben hat es gut mit mir gemeint. Natürlich nicht nur, es war schon ein schwieriger Anlauf. Durch meine Herkunft gab es genügend Steine im Weg, und es war klar, daß ich sie umgehen oder aus dem Weg räumen mußte. Was ich vom Leben wollte, habe ich nicht „errungen“, ist mir nicht nach langem Suchen allmählich bewußt geworden. Es war in mir angelegt und nicht zu entmutigen. In meiner Herkunftsfamilie galt Streben als Hochnäsigkeit, Lernen als Angabe, als Besserwisserei und als Zeitverschwendung. Jedes Buch aus der Volksbibliothek mußte ich schützen, damit es nicht als Fuß für einen lahmen Schrank diente oder – 1946 im kältesten Winter – im Ofen landete.
Das Leben schickte mich auf einen Weg, der zur Kostbarkeit der Erfahrung führte. Das war nur möglich durch die erste richtige Entscheidung, die ich noch, fast unüberlegt, aus dem Instinkt traf. Ich blieb, als alle meine Angehörigen nach drüben abhauten. Ich blieb, wo ich genügend jener Respektspersonen traf, die ich mit meinen Fragen unermüdlich behelligen konnte, und an ihnen und den Antworten dranzubleiben, auch wenn die Antworten schmerzhaft waren, oft überwältigend. Auch, wenn sie unbequeme Arbeit mit sich brachten und einen Auftrag, den ich ernst genommen habe: Nie wieder! und „Vergiß das nicht!“
Ein grader Weg ist es bis heute nicht geworden. Aber mir wurde meinen Lebensfrühling und Spätherbst hindurch genügend Grund zur Dankbarkeit gegeben. Sie schützt mich vor Überschätzung des eigenen Anteils am Erworbenen.
Ich gewann Freunde, so wichtige, so kostbare. Am liebsten möchte ich mich auf den Weg machen, um meine Verbundenheit zu einer letzten Ruhestätte zu tragen oder, weil es zum Glück noch möglich ist, zum Telefon greifen und es aussprechen, weil großer Dank auch ausgesprochen sein will. Noch immer ist mir ja, als sei ich wichtigen Menschen etwas schuldig geblieben, hätte ich meine Treue zu gemeinsamer Haltung und Überzeugung nicht deutlich genug gemacht. Beim Weiterleben, im Alltag, dort, wo es hingehört.
Wir konnten über alles reden. Woher sonst mein sicheres Wissen über den Globke-Prozeß, wenn es mir nicht vom Zeugen der Anklage Peter Edel so unlöschbar ins Gehirn gelegt worden wäre. Leicht zu ertragen war es nicht, als er mir im Nebenhaus aus dem Manuskript seines Lebensberichts vorlas: Auschwitz, Sachsenhausen, Mauthausen; und Esther, die Mengele mit medizinischen Versuchen umgebracht hat. Während er las, habe ich immer ihr Bild angeschaut.
Es war Hacks, der mich in meinen Anfängen ermutigte, besonders zu Liedern. Aber mehr noch war es seine durchgängig kompromißlose Haltung, die mir später bei großen politischen Auseinandersetzungen half, nicht umzukippen.
Alle Freunde waren politisch reifer, und an den Gründen dafür kann sich bis heute niemand von uns Nachgeborenen messen. Manchmal habe ich versucht, in die gemeinsame Arbeit doch etwas Romantisches oder Idealistisches einzubringen, aber sie hatten meist die besseren Argumente, und das fand ich unwiderstehlich. Und was nützt mir das jetzt? Der Name von Opfern oder als solche Bedrohten zieht sich durch unser Leben.
Wir haben Patrice Lumumba nicht gekannt. Als er umgebracht wurde, waren unsere Familien am Schwielowsee im Urlaub, aber die Friedlichkeit der sommerlichen Natur hinderte Hacks nicht daran, mir genau zu schildern, wofür Lumumba gelebt hat, und warum er sterben mußte. Bei Martin Luther King erübrigte sich jede Frage, und im Fall von Ethel und Julius Rosenberg war die eigene Hilflosigkeit schmerzhaft. Das Foto von der letzten Umarmung der beiden Menschen werde ich vererben.
Angela, da haben wir uns einen großen Moment im Leben mitverdient.
Aber Kuba? Stellen wir das Glas hin, das wir „freudetrunken“ auf die Cuban Five hoben, unsere fernen Freunde, die wir nie losgelassen haben, wir zugegeben nimmermüden Suchenden und Eifernden.
Warum streckt Obama, machtlos, ausgerechnet jetzt seine Hand den Kubanern hin, oder doch nach ihnen aus? Wäre die Auflösung von Guantánamo nicht ein dringend notwendiger Akt gewesen? In diesen Tagen erscheint das erste Tagebuch eines dort Gefangenen, Gefolterten. Da er frei ist, scheint er unschuldig gequält worden zu sein. Ich werde das Buch nicht lesen, meine Alpträume reichen.
Die Zeitung schreibt, daß Vertreter von Mastercard, Pfizer und der Fluggesellschaft Jetblue schon auf der Matte stehen. Die Kubaner haben die geringste Kindersterblichkeit – noch! Mit der Emanzipation der Frauen sind sie ein Stück weiter als wir – noch! Ihre Kultur ist reich, bunt, laut, wir haben alles geehrt und bewahrt, auch die Verse von José Martí, dem im Kampf Gefallenen.
Es gibt eine Hoffnung: Vielleicht ist die kubanische Kultur stärker, als es die unsere war. Die hat bei der grenzenlosen Vereinnahmung versagt.
Wie sollten wir den USA guten Willen unterstellen, den sie ja nicht einmal behaupten? Ich kann das nicht! Nach Hiroshima und Nagasaki, nach Vietnam, Irak und Afghanistan? Sie haben ja selber ehrliche Filme der schockierendsten Art über die Verbrechen im Namen ihrer Nation gedreht – sie konnten auch das straflos tun, denn ihnen ist bisher jedes Weltgericht erspart geblieben. Sie werden weiterhin versuchen, den Gendarm für alle anderen abzugeben. Ihr „Kongreß“ sorgt dafür, daß die Kriege weitergehen, und die Natur in jedem Moment mehr an Lebendigkeit verliert. Das Weltgeld versucht den Weltgeist zu bestimmen.
Was jetzt der jungen Regierung in Griechenland von den vereinigten Hardlinern auferlegt wird, müßte einen Schrei der Empörung von internationalem Umfang auslösen. Wie ihnen das nicht paßt, eine nahezu linke Regierung! Wie ihnen doch der Mißbrauch der Macht vorher zupaß kam. Wird die Welt aufschreien?
Wird sie nicht. Noch hat das Geld die Macht. Der Weltenplan der großkopfigen Rechten sieht gerade vor, das widerständige Kreuz der Russen zu brechen. Hat nicht geklappt, mit den eigenen Schlachtschiffen immer näher ran an die empfindlichen Grenzen Rußlands, das große opferreiche Land, dem die Rechten und seine einstigen Alliierten nun auch noch den Sieg über den Faschismus streitig machen wollen. Die Russen haben völkerrechtswidrig gehandelt? Da müßte man auch Feuermelder auf Dachböden so nennen.
Für unsere Haltung und Meinung zu den Krisenherden und den gerade stattfindenden Kriegen, als Schlacht oder sozialer Kampf, werden wir subtil oder manchmal auch ganz offen bestraft. Na und?
Das scheinbar Alltägliche treibt mich um. Eine Frau erzählt mir, daß sie nur wenig Spenden für die Volkssolidarität bekommt, manchmal wird sie barsch abgewiesen, mehr als einen Euro kriegt sie selten. Das war nicht üblich, und am liebsten würde ich morgen früh mal mit der Sammelliste losziehen. Könnte man doch drüber reden!
Aber nein, das kann ich nicht mehr!
Ich werde ein paar Lieder hinterlassen. Es gibt heute schon solche, von denen kaum noch jemand weiß, wer sie geschrieben hat. „Als unbekanntes Lied durchs Volk zu gehn ...“
Schöner Gedanke.
Meine Freunde, unsere Arbeit ist Stückwerk geblieben. Aber ich habe nicht aufgegeben und mache mich, zunächst mürrisch oder unsicher, an die Arbeit.
Mein nächstes, vielleicht letztes Buch soll heißen: „Das Jahr meiner Freunde“.
Ich hole aus über euer Leben oder Euch noch einmal in unser Leben zurück.
Da treffen wir uns nach unserer Art, legen ein Scheit ins Feuer, lassen uns wärmen und trinken ein Glas auf einen Versuch, von dem etwas bleiben wird.
„Ich werde niemals schmeißen/ mag auch der Vorhang reißen/ aus Eisen oder Tüll./ Mit ein paar andern Narren/ zieh ich denselben Karren/ trotz mancherlei Gebrüll ...“
Der Juni ist so schön, so vielversprechend, die Blüten und der Spargel. Den hatten wir früher kaum mal. Sag ich doch. Bis gleich.
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