RotFuchs 210 – Juli 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Du bist nicht schuld, und ich kann auch nichts dafür. Was können wir schon tun? Aber die Toten sind nicht „niemals gefallen“. Der Junge nicht, am ersten Tag des Großen Vaterländischen Krieges, er liegt unterm Birkenkreuz, und den Wein des Sieges trank er nie. Teddy und Rosa hatten keine neue Lebenszeit, nur weil wir beim Singen so tun. „Reichen wir die Hand“ – wohin denn, zu unserem Trost, oder zum Ruhm der Nation? Wir leben in einem Land, das hat immer Wichtigeres vor und schiebt alles „auf bald“, läßt Unrecht ruhn im Buchenwald.

Du willst nicht schuld sein, sagst du. Was irgendwo entschieden wurde, daran hattest du keinen Anteil. Die Gnade der späten Geburt entläßt uns aber nicht aus der Schuld der Unterlassung.

Du sagst mir, du weißt nicht, wie du über die Ausschüttung eines ganzen Kontinents auf uns Europäer denken sollst. Was wollen die hier? Ja, wo wollten sie denn hin, die Ströme der Flüchtlinge aus dem Osten, als der Krieg zu ihnen zurückkehrte? Wohin wollten sie, wenn nicht erst einmal fort aus der Heimat, aus Angst vor der Vergeltung, vor Hunger und Tod. Unter ihnen waren Familien, die hießen Grass, Hacks, Bobrowski, Rücker … Ihre Kinder hießen Günter, Peter, Johannes und Günther. Wir kennen sie alle. Die Flüchtlinge wollten dorthin, wo es Rettung gab, Hoffnung und vielleicht in einer neuen Heimat Frieden und Lebenssinn. Soweit ich mich erinnere, sind die Armen unter ihnen damals nicht eben freundlich aufgenommen worden.

Unser Boot ist jetzt vielleicht noch nicht voll, aber es könnte kippeln oder absaufen, wenn es so überladen wird. Die Flüchtlinge wollen Essen, Arbeit, Schlaf, Familie, Nachkommen, Sicherheit und einen Lebenssinn. Warum gerade bei uns? Nicht nur bei uns, aber auch. Weil keines der Verbrechen an ihrem Zuhause je durch den Versuch einer Gutmachung geahndet wurde. Die jetzige Generation flüchtet, weil sich bei ihnen zu Hause nichts ändert. Ihre Lebensgrundlagen, die sie allein nicht heilen können, unterliegen noch immer der Ausbeutung, immer noch fremden Zwecken. Öl, Gold, Diamanten, Zugänge für kriegerische Wege, Hunger, Krankheiten und Mißbrauch von Religionen lassen auf diesem Erdball wieder eine Generation ohne Chancen leben. So gehen sie, so kommen sie. Solange die Weltgemeinschaft, solange die Nachkommen der Schuldigen und die jetzt Mächtigen nicht helfen, in den Heimatländern der verzweifelt Flüchtenden ein normales Leben zu ermöglichen, solange werden wir uns in all unserer Unbeholfenheit und unserem Egoismus als Europäer mit dem Helfen behelfen müssen. Immer die Frage: Was machen wir mit denen? Wollen wir unsere Arbeitsplätze teilen? Oder nötige neue schaffen? Kinder brauchen eine ehrliche Chance, nötige Vorbildung für spätere Ausbildung zu bekommen. Das leisten wir bisher nicht, noch nicht einmal für die hier Geborenen. Die Flüchtlinge kommen mit einer Hoffnung, die sich den wenigsten erfüllt. Die Weltgemeinschaft der Menschen hat es bisher immer nur zu blutigen oder ideologischen Auseinandersetzungen gebracht und Fremdheiten vertieft.

Das haben die Ureinwohner der Kontinente überlebt oder auch nicht.

Unsere trägen Politiker können sich nur zu einer Meinungsäußerung aufraffen, halb so leidenschaftlich wie für oder gegen die Maut. Da sitzen sie in unserem Hohen Haus, lesen Zeitung oder simsen, sofern sie überhaupt anwesend sind. Es reicht aber nicht, sich dafür zu schämen, anderer Meinung zu sein, oder sich trotz des Risikos deutlich für Veränderungen einzusetzen.

Zu vieles geht vor sich und wird üblich, weil wir es geschehen lassen, weil wir uns zu wenig einmischen. Da geht es schon um unsere eigene Moral, um unser Beispiel, das wir den Nachgeborenen bieten.

Sicher, wir könnten den Italienern „was dazugeben“, uns freikaufen, wieder einmal. Das hieße, sich vor der eigentlichen Aufgabe zu drücken: den armen Ländern zu helfen, ihren Landeskindern ein normales Leben bieten zu können, so wie denen, die sich bis hierher durchschlagen.

Auch wir Deutschen haben unsere Spuren im Wüstensand, in den Regenwäldern und im verlockenden goldenen Boden Afrikas hinterlassen. Verantwortung ließe sich teilen, wenn auf diesem Erdball die Interessen des Kapitals endlich weniger wert wären als die nötigen Bemühungen um seine Heilung von all den Kriegsspuren, all dem Mißbrauch, all der Ausbeutung.

Es gibt Notgroschen, Notunterkünfte, Übergangslösungen. Wir schieben ab und überlassen die letzte Entscheidung darüber einem einzelnen Politiker, dem ich ungern meinen Notgroschen anvertrauen würde. Wir schicken auch die Mutter mit zwei Kindern weg, die einen Beruf hat, arbeiten will und ihre Kinder nach der Ankunft sofort in einer Schule untergebracht hat. Die reden mit ihren Freunden in der Klasse schon fließend deutsch. Weg mit ihr und ihren Kindern, Herr Senator Henkel! Aber da gehen Erinnerungen mit ihnen. Die werden sich deutsch nennen, wo immer diese kleine Familie landet.

Jeder von uns tut zu wenig. Oder zu viel. Herr Schäuble rechnet uns schuldenfrei: Er tut das inbrünstig, es ist ihm nicht nur Anliegen, sondern Lebensinhalt. Ich verstehe nicht genug davon, aber der Börsengang kann doch nicht unser nationaler Herzschlag sein.

So haben wir Älteren eine historische Meile lang nicht gelebt, und es bleibt mir zutiefst fremd und beunruhigend. Was immer ich tue, es ist auch meine Sache.

In mir brennt die Frage: Was müßten wir tun, auch wir einzelnen, auch wir, die zu keiner Entscheidung gedrängt werden oder berechtigt sind, die es warm haben im Winter, und die wir versuchen, aus all dem Vorläufigen und Unzulänglichen, dem Befremdlichen und neu Gefährlichen wieder eine Art von Zuhause zu machen? Aber der neudeutsche Satz: „Wir haben doch jetzt die Freiheit“, wird kaum irgendwo ausgesprochen, ohne daß ein paar Leute lachen. Bitter, zweifelnd.

Wir tun zu wenig. Du auch, und ich. Zu wenig, um dringend zu Veränderndes wirklich zu bewegen. Das Wort „Willkommen“ bleibt auch mir im Hals stecken.

Wohin kommst du, wohin gehst du
grenzenlos allein
Wohin mit dir
auf diesem neuen Erdenteil
noch ist deine Erwartung beinahe heil
aber du bist nicht unsersgleichen
du wirst uns nicht reichen
wir leben hier auch nicht aus dem Volln
aber wir werden dich nicht wolln …

Das sind Zeilen eines Textes, den ich für meinen Freund Dirk Michaelis geschrieben habe. Seit wir 1986 unser erstes Lied machten, und es ein Volkslied wurde, weil jeder schon mal irgendwo fortgegangen ist und meint, wir hätten eben seinen Versuch des Abschieds gemeint, seitdem unternehmen wir in Abständen immer wieder einen Versuch, für die gemeinsamen Auftritte unsere gemeinsame Meinung in ein neues Lied zu fassen.

Bei diesem Text nun war mir ein Fehler unterlaufen: Ich hielt mich raus und hatte mich auf das Podest der großen Urteilenden gestellt. Statt „unsersgleichen“ schrieb ich „ihresgleichen“, und als ich den Text las, war das eine unangenehme Entdeckung. Tief verwurzelte Vorurteile haben wir alle. Daß man anders denkt, heißt nicht immer, anders zu reagieren. Man achte auf sich! Ich jedenfalls habe mich auf diese Weise wieder einmal ertappt.