RotFuchs 201 – Oktober 2014

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Im milderen Abendlicht fügen sich alle großen Geschichten aus dem eigenen Leben zu einem gelungenen Farbfilm. Alles Geschehen hat dazu beigetragen, daß es ein Leben wurde, kein bejammertes Ablaufen unglückseliger Ereignisse. Zeit, sich zu versöhnen. Mit allem, mit jedem?

Wäre schön, geht aber nicht. Die gewaltigen Ungerechtigkeiten sind wieder und noch da, nahe den Augen und überwältigend für die Seele. Auch das, was wir nie wieder dulden wollten. Die Zeitung schlägt sich uns um die Ohren, auf dem Bildschirm agieren Fressen und vermelden Fakten, wo es nicht einmal zum Gerücht reicht. Wir hatten uns ganz gut berappelt, es sogar zu einer Art Courage gebracht, verteidigten Anstand, und ich hatte genügend Anlaß, öffentlich oder diskret als Philomena Kleespieß aufzutreten.

Das heute Mögliche reicht nun nicht aus. Völkermord und entfesselter Fanatismus sind auch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges möglich.

Es ging uns schon einmal besser.

Ich hätte mich nicht erinnern sollen. Nicht grade heute, denn heute ist ein besonderer Tag. Ich habe ihn dazu ernannt: Die Kinder spielen laut, im Vergleich unbedroht, sie haben Wasser, Essen und Medikamente, gehen mit anderen Kindern die Straße lang, Autofahrer schimpfen auf andere Autofahrer, Radfahrer drängeln an den Kreuzungen, Menschen gehen langsam, sind gekleidet, wie man sich selber nie anziehen würde – und diese Frisuren! Teenies rauchen und verstopfen sich die Ohren mit Musik, greifen dauernd nach dem Handy und teilen ihre Angelegenheiten in der Straßenbahn und überall sonst mit: Alles ist ganz normal.

Ich aber habe etwas verloren, was mir niemand wiedergeben wird: mein Recht und meine Lust auf Einspruch. Zu Hause, im öffentlichen Leben und wenn meine Courage oder mein Unmut reichte, dann sogar bis ziemlich „weit oben“. Es hat nicht immer geklappt, aber oft. Wenn es um Ungerechtigkeit ging, dann war ich durchdrungen und vertrat die Sache, die fast nie meine eigene war. Ich kam von draußen, brachte Unruhe nach drinnen und hatte bald raus, daß man hinter Schreibtischen für möglich hielt, mich habe die Rote Armee vorgeschickt oder die hiesige Macht. Ich hatte keine Angst, damals, und nicht immer Erfolg, die „lange Bank“ war oft genug meine Wartezelle – aber diese Art, sich zu übernehmen, war nichts als die pralle Lust. „Jetzt knabbern wir wohl bald wieder mit beiden Beinen am Bettelstab“ sagte meine witzige Tochter manchmal, aber es kam nie dazu.

Ich war keine beeindruckende Persönlichkeit, die mit besonderen Rechten ausgestattet war und keine Scheu zu haben brauchte. In den Zeiten heute unausgesetzt bebilderter Unfreiheiten griff ich auf, griff an und forderte, abzustellen oder einzugreifen. Sie hätten mich nur rauswerfen müssen, wo es doch um Vorschriften, wenn auch idiotischer Art, ging. Um Haarlänge, Verbot von Jeans auf der Bühne oder Westfernsehen. Es gab Schikanen beim Behandeln der Gegenwart in der Kunst, gab zu lange die leidigen Reiseverbote. Manchmal war ein Künstler in einem Bezirk berühmt, im anderen verboten.

Ich war ein freches Weib, das sich vor keiner Arbeit drückte. In Büros und in Gedichten bin ich einer inneren Überzeugung gefolgt, die mir die Füße festhielt und mich Klinken auch mehrmals putzen ließ. Wir haben gelebt, meist Verbündete gefunden und alles überstanden, auch das, was man heute gern damals schärfer angegriffen hätte. Ich habe mir Siege und Beulen geholt. Und war dankbar für die Bedingungen, unter denen ich aus mir machen konnte, was es durch Arbeit werden wollte.

Früher stand vieles nicht zum Besten und nicht im Regal, nicht in der Zeitung, oft scheinbar nicht in Aussicht. Aber unsere Konstante war, daß sich ständig etwas veränderte.

Als wir in die Leipziger Straße zogen, kamen wir aus dem Alltagsgetöse der Schönhauser Allee. Lärmschäden, sagte der Arzt, sind nicht heilbar,

Hier kamen wir in ein Gelände, wo jeder Meter vom Krieg zeugte. Es gab noch keinen Kiez, weder Bäcker noch Fleischer oder gar eine Kaufhalle. Der Gendarmenmarkt ruhte noch als Trümmerfeld. Birken wuchsen aus den Ruinen. Viele Kräne und Bagger standen vor dem Haus, wenn sie denn arbeiteten und die Brigaden nicht zu wichtigerem Bau abgezogen wurden, aufregend oft.

Wir waren die ersten Mieter und wurden auf einer Plattform außen hochgezogen in den 25. Stock. Welch eine erste Nacht, mit Sturm und Gewittern und einem ganzen Himmel für uns allein, mit all seinen Wettern.

Ein Dorf nach oben: einhundertachtzig Familien und drei Fahrstühle, die nur einmal gleichzeitig streikten.

Die Kinder hatten noch keinen Spielplatz in der näheren Umgebung.

Zwischen halb acht und halb neun Uhr früh waren die Fahrstühle besetzt von den Schülern, die sich gegenseitig abholten. In der Freizeit standen sie ziemlich rum. Mein Mann Wilhelm sagte an einem Sonnabend zu den Kindern, die sich vor dem Haus mopsten: „Kommt, wir malen eine Sonne!“

So ist das Lied für Frank Schöbel entstanden. Eine warme Erinnerung bleibt. Wilhelm holte Kreide, Fläche war vorhanden. Vorübergehende und Hausbewohner blieben stehen, guckten sich den Vorgang an, und begannen, Ratschläge zu geben. Ich fuhr mit Brause, Keksen und Freude in der Seele im Fahrstuhl hoch und runter. Jemand sagte: „Wir brauchen einen ersten Preis für die schönste Sonne.“ Wir sagten: „Bei uns gibt es nur erste Preise, jeder kriegt genau den.“

Aus den Kindern von damals sind Erwachsene geworden, auch nicht mehr die jüngsten, aber wenn sie nach Hause kommen, wechseln wir ein paar Worte, vor dem Haus oder im Fahrstuhl. Wir duzen uns noch, und ich erfahre, wie es ihnen selber und ihren Kindern geht.

Manchmal treffen wir uns, die letzten Altmieter, wenn sie zusteigen, oder das Vehikel für den Zusteigenden aufhalten. Dann gucken wir uns an und setzen das Gespräch fort, als hätten wir es eben erst unterbrochen.

Warum sollte das die Frau, wesenlos durch die Burka, interessieren? Sie steht neben mir. Ich bin befangen und deswegen auf mich ärgerlich.

Der dunkelbärtige Mann, den ich noch nie im Fahrstuhl getroffen habe, läßt seine Frau draußen immer einen großen Schritt hinter sich. Vielleicht erzwingt sie das, weil es bei ihrem Vater so war oder weil sie die Sprache nicht beherrscht, die hier gesprochen wird? Kann sie lesen und schreiben? Macht diese Frage mich fremdenfeindlich?

Es heißt, einige Wohnungen werden nun auch an übernachtende Reisende vermietet.

Ich möchte hier bleiben. Der Geruch der nun alten Gemäuer in den öffentlichen Zugängen stört mich nicht. Da können sie das Haus schlechter verkaufen.

Aber jüngst standen wir, drei Altmieterinnen, auf der Fahrt nach unten im engen Gehäuse, tratschten herrlich, blieben unterwegs stehen. Das sind wir gewöhnt. Die Tür des Gefährts öffnet sich, ein Junge, gerade schulfähig, steht mit Papa davor. Er sagt: „Wir fahren nicht mit Frauen im Fahrstuhl.“

Ich weiß bis jetzt nicht, was eine von uns hätte sagen sollen, und ich werde nicht verraten, was wir gesagt haben.

Damals, als wir vieles nicht kaufen konnten, gab es uns miteinander – und mich, die ihr selbst ernanntes Recht auf Einspruch nutzte. Früher wäre ich zu dem Papa gegangen. Heute wäre mein Einspruch als unzulässige Einmischung aufgefaßt worden. Das gilt nicht nur für die Nachbarn von weither.

Meine Courage könnte ich derzeit für mich behalten. Ich denk nicht dran.

Aus dem Verlagstext zum soeben erschienenen Gedichtband unserer Autorin: „Gedichte sind Nachrichten von unterwegs: von neuen Erfahrungen, neuen Gedanken, von Begegnungen mit Klügeren oder mit Ratsuchenden, auch von Momenten des Erinnerns, ohne die allem Neuen nur unbeständiger Wert beschieden wäre.“

Gisela Steineckert:

Wenn du mal nicht weiter weißt
Gedichte

Verlag Neues Leben, 126 S.
ISBN 978-3-355-01826-5

12,99 €