RotFuchs 200 – September 2014

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Draußen klagt ein großer Sommer seine Vergänglichkeit. Er hat uns mit seinen Schönheiten, Übertreibungen und mit Schrecknissen überfordert.

In der Geschichte der Menschheit war der Sommer zu oft die Lauer vor dem Angriff, vor der Eroberung, die immer als Zurückschlagen gegen erlittenes Unrecht getarnt wurde. Schwert oder Atombombe, sie wurden gegen neu ernannte oder abermals zu benennende Feinde vernichtend eingesetzt, das Schwert geglüht und das beschuldigende Wort geschliffen.

Und wir, blöde Mädchen allzu lange, trugen beim Ausmarsch der Jungen die Blumen und schämten uns der Tränen, als seien sie Beweise weiblicher Feigheit, während der Soldat gerade, mit blöden Sprüchen im Herzen, dem kleinen Sieg – vor dem großen Tod – entgegenmarschierte.

All dem hatten wir abgeschworen, aufrichtig durchdrungen, mit Vorsätzen und Erkenntnissen: „Für Waffen gibt’s heut’ keinen Sieg.“ Und es wäre kein vorläufiger von Dauer, wenn ihm nicht ein glaubwürdiger Frieden folgt.

Aber: „Es ist um den einfachen Frieden seit Tausenden von Jahren ein beschwerlich Ding.“

Lange her, seit ich das geschrieben habe, aber die Historie hat der kleinen Hoffnung immer wieder die kriegerische Alternative entgegengesetzt.

Jetzt ist es September. Ungeachtet seiner schrecklichen Daten in der Geschichte habe ich den September schon immer geliebt Das Alter, kann sein, ist unsere durch Erfahrung reiche zweite Kindheit. Wir können endlich vieles, was wir beim Streben und Hochkommen, bei den nötigen Gründungen und inmitten all der Verluste und Brüche nicht gebrauchen konnten. Wir dürfen unserer ersten Erziehung die eigene folgen lassen. Und staunen, wie verfügbar uns unsere Einwände sind. Zum Beispiel: Das haben wir doch alles gewußt, nachdem es uns widerfahren war, damals, lange her. Dazu hatten wir eine gefestigte Meinung: NIE WIEDER! Erst meinten wir die längst nicht verwundenen Schlachtfelder, dann kam der überstürzte Verlust der Heimat und mittendrin eine „Treuhand“, die unsere Arbeit von vierzig Jahren erst sortieren, dann evaluieren, schließlich verschenken oder verschleudern durfte. Oft auch, um sich vor unserer Konkurrenz zu schützen, Industrie oder Kultur. Es wurde anschließend für alle Seiten sehr teuer, aber das ließ auch keine Schadenfreude aufkommen, weil man den Schaden als Teil unserer historischen Schuld erklärte.

Ich staune. Da taucht ein Mann auf, ein Arbeitersohn und nun Milliardär, ein Oligarch. Wo er gelernt hat, mit Macht umzugehen, wissen wir. Sie zu erlangen, hatte er Hilfe. Sein Englisch ist perfekt.

Er hat sich das Vermögen beim Zusammenbruch der Sowjetunion als Manager in die Tasche gewirtschaftet. Und er ist nicht der einzige. Frau Ti. und Herr Cho. taten desgleichen, wurden wegen der kriminellen Machenschaft von der Steuerbehörde belangt und eingesperrt. So mutierten sie in der westlichen Presse zu Freiheitskämpfern. Sie sind zwar noch reich, aber politisch verbrannt. Dieser aber droht aus Kiew als neuer Präsident mit Völkermord und ist bei „demokratischen“ Staatenlenkern zu Gast. Er darf Beschuldigungen erheben, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehren, und bekommt dafür die nötige Schützenhilfe der Medien und vieler Politiker.

Die haben ihre Chance versäumt, zu verhindern, was lange drohte und nun eingetreten ist: Ich möchte kein Wort gegen Israel und seine Bewohner sagen.

Aber wenn eine Regierung nach vermutlich mörderischer Provokation zur Vernichtung unschuldiger Zivilisten übergeht, wieso versagen dann weltweit alle Gremien, die sich die Politik geschaffen hat? Hochtönende Namen, internationale, überzeugende Gremien – und Ratlosigkeit.

Woanders: Eine Generation ohne Zukunft macht sich unter Lebensgefahr auf den Weg in dieses unruhige und bedrohte Europa. Junge Menschen verlassen Afrika, das sie so nötig brauchen würde, um endlich den eigenen Kindern einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen, um der Sklaverei, der Unbildung und dem Aberglauben, der Unterernährung und den tödlichen Krankheiten zu entkommen.

Ich lese davon nur Vages in den Zeitungen, die ich anstaune. Sie sind den Promis, ihren Scheidungen, Festen und den Gewändern der Weiber auf der Spur; kaum je dieser Zeit, die der Analyse und des Aufruhrs bedarf.

Ich wollte anfangen, meine Ruhe zu haben und staune, wie es mich aufrührt.

Mehr als diejenigen, die es doch einmal so mächtig antrieb, daß sie Feuer umstanden, in denen das Schwert zum Pflug umgeschmiedet werden sollte. Wo sind sie? Es war doch mutig, daß sie auf die Straße gegangen sind, weil der eigene Staat eingeschlafen schien, unfähig geworden war. Da kamen sie, mit Einsprüchen, Vorschlägen, mit Widerspruch, und scheinbar mit Charakter.

Aber das war ein Irrtum. Ich sehe nur noch Spreu, wo ist der Weizen geblieben? In Pöstchen, Vorständen, im Abseits, im Wortgeklingel. Ich würde gern die große Ausnahme rühmen, aber ich kenne sie nicht. Aus Abschaffen wird Verrat, wenn du dich anschließend zu deinem Wohle verdrückst, statt etwas Neues aufzubauen, wovon du uns glauben machtest, du habest das im heißen Herzen vor.

Aber derzeit gibt es ja in Moskau eine große Adresse für alles, was schiefgeht. Die Russen waren es, immer, sie haben es zu sein, weil sie das glatte Durchwinken der NATO und der EU bis an ihre Grenze verhindern. Sie hatten auch etwas dagegen, den Zugang zum Mittelmeer zu verlieren. Das ist natürlich nicht günstig. Nicht für die andere Seite.

Ein malaysisches Flugzeug ist abgeschossen worden. Das waren die auch. Nein, der da. Der trotz bösartiger Vorauspresse eine ungestörte Olympiade durchgesetzt hat. Der über kein Stöckchen springt, von denen ihm so viele entgegengehalten werden.

Der Oligarch war bei Frau Merkel zu Gast, ehe er als erster demütig den Kopf neigte und Blumen niederlegte, wo der Opfer eines Kriegsverbrechens gedacht werden soll – was angesichts der Ungeklärtheit der Umstände nur Chuzpe ist, solange er selbst als Mitwisser nicht ausgeschlossen werden kann.

Was tun wir? Wenig, viel zu wenig, gemessen an dem, was wir uns einmal vorgenommen haben.

Aber es ist unerträglich, wie eingepaßt in die derzeit herrschende Ideologie des Kapitals diejenigen ihr Tagwerk verrichten, die hierzulande gewählt wurden.

Geldgier ist ein gefährlicher Teil der Macht, und es scheint so, als könne man nur dann den eigenen Idealen treu bleiben, wenn man nicht an ihr teilhat.

Ich staune, daß dieses mein Land einen Schwätzer als Präsidenten duldet, einen, der die Fußballelf knutscht, als habe er sie schon immer geliebt. Und ich staune, wie wenig Zeit er brauchte, um uns mit seinen wahren politischen Träumen bekanntzumachen.

Es wäre Zeit, auf die Straße zu gehen und gegen teuflische Absichten, gegen Schurken am Ruder, das Aufflammen unsäglicher Vorurteile und die Gleichgültigkeit der vielen zu demonstrieren.

Es gibt in Berlin eine Fan-Meile, die sollte nicht nur für das Bunte im Leben genutzt werden. Ein Nein dem frechen holländischen Schweinemäster in unserem schönen Brandenburg, ein Nein der Frau, die ihre militärischen Ambitionen mit einem Fallschirmabsprung deutlich macht. Ein Nein dem großen Rat für das Volk: „Sei froh, daß du hast, vielleicht kriegst, und kümmere dich nicht um Dinge, von denen wir mehr verstehen. Wir sind alternativlos.“

Das Volk, der große Lümmel, hat viel Trägheit abzuwerfen. Staunen reicht nicht!

Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.
Bertolt Brecht
(Aus „Leben des Galilei“)